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Was wir Liebe nennen

Was wir Liebe nennen

Titel: Was wir Liebe nennen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Lendle
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einladend aus?«
    Sie zeigte auf die Frucht an der Decke. Eine Hälfte war stumpf und dreckig, die andere strahlte wie frisch vom Baum gepflückt.
    Â»Eindrucksvoll. Selbst gemalt?«
    Sie warf ihm einen Blick zu. Ihre Augen hatten diese Farbe leerer Weinflaschen, bei denen man nie wusste, ob sie ins grüne oder braune Altglas gehörten.
    Â»Nein, ich füge nichts hinzu. Ich nehme nur den Dreck weg.«
    Â»Und der Pinsel?«
    Â»Wasser. Wenn es zu sehr klebt, kommt ein Tropfen Lösungsmittel rein.«
    Sie wandte sich wieder dem Deckenbild zu und wischte in winzigen Drehungen über den immer gleichen Fleck.
    Â»Und das machen Sie den ganzen Tag? Pinsel, Wasser, wischen?«
    Â»Wenn Sie genau hinsehen, merken Sie, dass es kein Pinsel ist.« Sie zupfte etwas von dem Holzstab und warf es in einen Eimer. Dann pflückte sie aus einer Tüte etwas Watte und wickelte sie vorsichtig um das Stäbchen.
    Â»Wäre es nicht leichter, alles neu zu malen?«
    Â»Viel leichter. Aber man findet heutzutage kaum mehr alte Meister.«
    Lambert sah der Frau zu und wäre ihr gerne auf irgendeine Weise zur Hand gegangen, aber sie schien alles, was sie brauchte, selbst machen zu können. Endlich sagte sie: »Das Entsetzliche ist: Man will es retten und zerstört es dabei. Man dürfte nichts als Staub abtragen, aber es kommt immer ein Hauch Farbe mit. Schauen Sie.« Sie hielt ihm den Wattebausch hin. In dem schmutzigen Grau leuchtete ein wenig vom Rot des Apfels. »Der einzige Trost besteht in der Aussicht, dass es nachher wieder für hundert Jahre so bleiben kann. Und man versucht nicht daran zu denken, dass alles, was wir heute über das Restaurieren wissen, morgen schon überholt sein wird. Sie machen sich keine Vorstellung davon, mit welchen Kamikazemethoden sie früher rangegangen sind. Halbe Epochen wurden ausradiert.«
    Â»Das tut mir leid.«
    Â»Tun Sie nicht so.«
    Â»Nein wirklich. Ich ertrage Vergänglichkeit nicht gut.«
    Â»Keine gute Voraussetzung für ein Leben in dieser Welt. Geht mir aber nicht anders.« Sie wechselte die Watte erneut. »Wahrscheinlich bin ich deshalb hier gelandet.«
    Eine Weile sagten sie beide nichts. Die Frau wischte, und er sah ihr zu, irgendwann merkte er, dass er jede Drehung ihrer Finger mit einer winzigen Bewegung seiner Hand begleitete.
    Â»Ur s prünglich ging man davon aus, die Fresken seien so alt wie die Kirche, was sie zu den ältesten nördlich der Alpen gemacht hätte. Aber mit jeder Lage Dreck, die verschwindet, wird deutlicher, dass die Vermutung nicht zu halten ist. Historisierend gemalt, mittlerweile tippe ich, dass es keine hundertfünfzig Jahre sind.«
    Â»Warum hätte jemand malen wollen wie im Mittelalter?«
    Â»Aus Sehnsucht?«
    Â»Oh. Ja, das leuchtet ein.«
    Â»Was dieser zu s pät Geborene nicht wusste: Im Mittelalter hatten die Flügel der Engel Farbverläufe. Dieser hier aber trägt unter dem Dreck einen roten und einen grünen Flügel. Was im neunzehnten Jahrhundert nicht ungewöhnlich war.«
    Â»Wie gewissenhaft. Er zeigt backbord und steuerbord an.«
    Â»Immerhin. Gewissenhaftigkeit ist ziemlich genau das, was ich von einem Engel erwarte. Fällt Ihnen sonst nichts an ihm auf?«
    Â»Nicht direkt. Außer dass ich auch gerne einen roten und einen grünen Flügel hätte.«
    Â»Es würde Ihnen zumindest s päter den Abstieg erleichtern. Aber das meine ich nicht. Schauen Sie mal genau, wer den Apfel hält.«
    Â»O nein. Der Engel selbst.«
    Â»Da staunen Sie.«
    Â»Es sieht aus, als drängte er ihn den beiden auf.«
    Â»Beängstigende Vorstellung.«
    Â»Und wo steckt die Schlange?«
    Â»Verkriecht sich irgendwo. Bisher jedenfalls ist sie unter dem Staub noch nicht wieder aufgetaucht. Schließlich hat Gott sie verflucht, ihr Leben lang Erde zu fressen.«
    Â»Was passiert eigentlich, wenn man am Apfel nur mal riecht?«
    Â»So wie der hier aussieht, will man auch reinbeißen, wenn man ihn schon mal in der Hand hat.«
    Â»Eins habe ich ohnehin nie verstanden: Geht es eigentlich um Sex oder um Erkenntnis? Und welche Erkenntnis würde die Verführung bringen?«
    Eine Weile lang schauten sie beide auf das Bild, dann wickelte die Frau einen neuen Streifen Watte um das Stäbchen und fuhr fort, den Apfel freizulegen. Endlich sagte sie: »Es ist wohl ein s pätes Missverständnis.«
    Â»Sie

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