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Was wir Liebe nennen

Was wir Liebe nennen

Titel: Was wir Liebe nennen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Lendle
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Seminar gegen Flugangst. Ich wusste als Einzige nicht, was das ist. Ich konnte es mir einfach nicht vorstellen. Der Leiter hat alles versucht, um mir Furcht einzujagen, er hat mir Katastrophen ausgemalt, mich hinterrücks erschreckt, mich hecheln lassen, bis ich hyperventilierte.«
    Â»Und?«
    Â»Nichts. Ich habe einfach nicht kapiert, worauf er hinauswollte. Es ist wie mit dem Kitzeln. Wer nicht kitzelig ist, den lässt jeder weitere Versuch, ihn zum Lachen zu bringen, nur noch unbeeindruckter zurück. Ich durfte die Teilnahme abbrechen.«
    Â»Re s pekt. Wobei: Wäre für deine Arbeit nicht eher ein Seminar zur Unterstützung von Flugangst nützlich, zum Einfühlen in die Befindlichkeit der Passagiere?« Lambert sagte lieber nichts davon, dass er heute zum ersten Mal geflogen war.
    Â»Und der Vater?«
    Â»Meiner?«
    Â»Nein, Saschas.«
    Â»Ach so. Ich habe nämlich auch keinen mehr. Saschas Vater ist zu Hause.«
    Wie schwer das rote Licht des Radioweckers es hatte, den Raum zu erleuchten. Aber wenn man lange genug wartete, machte es irgendwann den Eindruck, das Zimmer stehe hell in Flammen. Dann fuhr Viola fort:
    Â»Ich meine, bei sich zu Hause.«
    Â»Seid ihr getrennt?«
    Â»Wir waren nie zusammen. Er ist einfach mein bester Freund, schon als Kinder haben wir alles zu zweit gemacht, Angeln, Rumsitzen, Reitstunde. Wir sind gemeinsam zum Studieren nach Kanada gegangen, am Anfang haben wir sogar zusammengewohnt. Nur körperlich haben wir nie aufeinander reagiert. Irgendwann haben wir uns eingestanden, dass keiner sich vorstellen kann, einem anderen jemals so nah zu sein.«
    Â»Und?«
    Â»In vitro, das ist alles. Wir durften bei der Befruchtung zusehen. Sascha ist mal bei mir, mal bei ihm, seit ihrer Geburt arbeite ich von zu Hause. Den Urlaub verbringen wir meist zusammen. Er freut sich auf das neue Kind.«
    Lambert wurde davon geweckt, dass jemand mit einem Golfschläger gegen seine Stirn klopfte, immer wieder. Gleichzeitig traf ihn ein Schwall Milch und überschwemmte sein Gesicht. Er schreckte auf und erwog für Momente die Möglichkeit, in einer Parallelwelt gelandet zu sein. Etwas bohrte sich in seinen Oberarm. Als er die Augen aufschlug, sah er, dass es ein Kind war. Es drückte die Nase in seine Seite. Dahinter erkannte er eine Frau. War das sein Kind? Seine Frau? Hatte er selbst diese Aquarelle ins Schlafzimmer gehängt? Ein kleiner Seufzer entfuhr ihm, dann war er wach. Jagender Kopfschmerz.
    Was er für seine Stirn gehalten hatte, war die Zimmertür, es klopfte noch immer. Statt Milch floss Sonnenlicht über sein Gesicht. Richtig, er war im Nirgendwo. Alles stimmte wieder.
    Als er vorsichtig die Tür öffnete, stand dort die Stewardess, bereits in Uniform, aber mit zerzaustem Haar. Lambert gähnte, sie gähnte mit. Beide lachten, dann sagte sie mit wiedergefundenem Ernst, das Frühstück stehe bereit. Abfahrt in einer halben Stunde.

9
    Ich kann auch nicht zaubern. Der Satz der Stewardess hätte von ihm sein können. Andererseits: Was konnte er denn sonst?
    Er sah sich nicht als Zauberer. Er machte den Leuten etwas vor, das war alles. Und sie genossen es, einfach weil sie nicht verstanden, was da vor sich ging. Weil ein Zweifel blieb, ob er, allem Wissen zum Trotz, nicht doch Fähigkeiten besaß, von denen sie nur träumten. Von ihnen aus, von vorne, musste es aussehen wie ein Wunder. Von hinten war es nichts als Humbug. Lambert kannte jede seiner Bewegungen im Schlaf. Manchmal kam es vor, dass er die Menge für ihre überraschten Schreie verachtete. Man musste nur ausreichend resolut behaupten, eine S p ielkarte nicht zu berühren, schon waren sie davon überzeugt, selbst wenn man die Karte dabei in der Hand hielt. Mit dem Wort Illusionist hätte Lambert sich anfreunden können. Der Rest war Folklore.
    Er war da in etwas hineingeraten und fand nicht wieder heraus. Wie viel hätte er dafür gegeben, etwas anderes zu tun. Aber er hatte sonst nichts gelernt. Er hätte zaubern müssen, um dem Zaubern zu entkommen.
    Das Missverständnis der Kinder: Sie kamen, wenn er in Schulen auftrat, nach der Vorstellung zu ihm und wünschten sich Unmögliches. Im Wesentlichen Geld, Glitzerstifte, mehr (oder weniger) Geschwister, technisches S pielzeug, Pferde. Sie begriffen nicht, was sie gesehen hatten: Tricks.
    Einmal, in der Stadthalle Braunschweig, war ihm der ganze Zauber auf einmal zuwider

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