Was wir sind und was wir sein könnten: Ein neurobiologischer Mutmacher (German Edition)
verrannt. Wie immer, wenn es schwierig wird, versuchen sich manche nun wieder rückwärts durchzuschlagen. Andere glauben noch daran, dass der erhoffte Durchbruch nach vorn mit einer vereinten Kraftanstrengung doch noch zu schaffen ist. Der Rest ist ratlos und blickt ängstlich in das Gestrüpp der täglich von den Medien verbreiteten Horrormeldungen über den gegenwärtigen Zustand der Welt. Hirntechnisch ist dieser Zustand von Angst und Hilflosigkeit nicht lange auszuhalten. Deshalb findet auch jeder Mensch über kurz oder lang eine Lösung, die ihm hilft, wieder einigermaßen Ordnung in die im Gehirn ablaufenden Erregungen zu bringen. Der Fachausdruck dafür lautet Dissoziation, der Volksmund nennt es hirnrissig, und das bedeutet nichts anderes, als dass man sich mit aller Kraft darum bemüht, einfach so weiterzumachen wie bisher, so zu tun, als wäre noch immer alles in Ordnung, als gäbe es all diese Probleme unseres gegenwärtigen Sozial-, Bildungs-, Renten-, Finanz- oder Wirtschaftssystems nicht, als wäre all das, was uns in den Medien und von allen möglichen Experten vor Augen geführt wird, in Wirklichkeit gar nicht vorhanden oder gar nicht so wichtig.
Wer diese Fähigkeit des Abspaltens und Verdrängens lange genug erfolgreich eingesetzt hat, kann tatsächlich einfach so weitermachen wie bisher. Manche schaffen es sogar, all das, was sie bisher ohnehin schon immer gemacht haben, nun sogar noch besser, noch effektiver, noch rücksichtsloser und noch gedankenloser umzusetzen. Augen zu und durch! Es geht ja nicht anders, heißt ihre Devise. Dann kann man sich als Mutter um die besten Frühförderungsprogramme und die kompetentesten Nachhilfelehrer für den eigenen Nachwuchs kümmern, man kann als Führungskraft Kurse über effektiveres Zeitmanagement besuchen und seine Ferien auf der letzten noch intakten Südseeinsel verbringen. Schüler und Studenten können ihre kognitive Leistungsfähigkeit mit Hirndoping-Pillen steigern. Und als Hirnforscher kann man dann nach neuen Psychopharmaka zur Verbesserung der Stressbewältigung, der Affektregulation, der Aufmerksamkeitsfokussierung oder der Merkfähigkeit suchen. Daran leiden ja nun auch immer mehr Menschen, weil sie das, was sie brauchen, nicht finden und sie das, was sie belastet, nicht verändern können. Das Bild des Hamsterrades beschreibt am anschaulichsten den Zustand, der das Lebensgefühl einer wachsenden Zahl von Menschen in unserer gegenwärtigen Leistungsgesellschaft prägt. Interessanterweise gilt das inzwischen nicht nur für all jene, die in diesem Rad gefangen sind, sondern ebenso für diejenigen, die es drehen.
Dieses Hamsterrad kann eine im eigenen Hirn verankerte Vorstellung davon sein, worauf es im Leben ankommt, wofür es sich anzustrengen lohnt, was sich im Leben verändern lässt und was man, wie alle anderen, einfach auszuhalten hat. Wer so unterwegs ist, fragt sich nicht mehr, wer ihn eigentlich auf diesen Weg geschickt, von wem er diese Vorstellungen übernommen hat. Er will ja inzwischen selbst so gut wie möglich funktionieren. Deshalb hält er auch all das, was er durch sein optimales Funktionieren, d.h. durch seine dabei vollbrachten Leistungen erreicht, für das, wofür es sich zu leben lohnt, worauf es also im Leben ankommt. In dieser Vorstellung bleibt der betreffende Mensch gefangen, bis es für ihn nichts mehr zu erreichen gibt. Dann hat das Leben für ihn seinen Sinn verloren. Dann dauert es nicht mehr lange, bis er stirbt.
Ergänzt und in seiner Wirkung verstärkt wird dieses Hamsterrad im eigenen Kopf durch die Vielzahl von Organisations- und Verwaltungsstrukturen, die jede arbeitsteilige Gesellschaft entwickelt, um die anstehenden Aufgaben zuzuweisen und die für die Erfüllung dieser Aufgaben in Aussicht gestellten Belohnungen zu verteilen. Ähnlich wie die im Hirn des Einzelnen verankerten Vorstellungen entwickeln aber auch diese von Gemeinschaften entwickelten Organisations- und Verwaltungsstrukturen eine sich selbst stabilisierende Eigendynamik. Dann wird die Organisation und die Verwaltung immer effizienter, und zwangsläufig wird auf diese Weise all das gestärkt, was dem noch besseren Organisieren und Verwalten all dessen dient, was da jeweils organisiert und verwaltet wird. Nur scheinbar handelt es sich dabei um Arbeit, Geld, Gesundheit, Bildung oder Renten. In Wirklichkeit sind es immer lebendige Menschen, die als Arbeitnehmer, Lohnempfänger, Einwohner, Patienten, Schüler oder Rentner zu Gegenständen dieses
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