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Was wir sind und was wir sein könnten

Was wir sind und was wir sein könnten

Titel: Was wir sind und was wir sein könnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerald Hüther
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anders zu bewegen gelernt, hätten auf anderes geachtet, hätten anderes wichtig gefunden und sich über anderes gefreut. Sie hätten sich an anderen Vorbildern orientiert, hätten andere Regeln und Rituale, andere Wertmaßstäbe und andere religiöse Überzeugungen übernommen. Und all das wäre in Form neuronaler Netzwerke und synaptischer Verschaltungsmuster strukturell ebenso fest in Ihrem Gehirn verankert worden, wie all das in Ihrem Hirn verankert worden ist, was Sie hier in Deutschland, in Österreich oder in Schweiz erfahren, erlebt und eingeübt haben, vielleicht auch erfahren, erdulden und einüben mussten.
    Und nun können wir das gleiche Gedankenexperiment noch einmal machen, nur diesmal stellen Sie sich einfach vor, Sie wären nicht in eine andere Kultur auf einem anderen Kontinent, sondern nur in eine andere Familie in derselben Straße oder in derselben Stadt hineingewachsen. Also beispielsweise als erstes und einziges Kind der Professorenfamilie aus dem Villenviertel mit der genervten, ewig meckernden Frau. Die wäre dann Ihre Mutter gewesen. Oder als sechstes Kind der Familie aus der Bahnhofstraße. Das ist die Familie, in der der Mann schon seit Jahren arbeitslos und fast immer betrunken ist und dessen Frau im Supermarkt an der Kasse arbeitet, abends bis zehn. Das wären dann Ihre Eltern gewesen.
    Genauso gut könnten Sie aber auch als Kind der alleinerziehenden Mutter aufgewachsen sein, die ihrem damaligen Partner zuliebe in diese Stadt gezogen und dann von ihm betrogen und verlassen geworden ist. Außer Ihnen hätte diese arme Frau niemanden gehabt, mit dem sie ihr Leid teilen konnte.
    Gern können Sie das Spektrum der familiären Lebenswelten noch um einige andere Beispiele aus Ihrem Wohnviertel oder Bekanntenkreis erweitern. Sie ahnen ja bereits, worauf das Ganze hinausläuft. Sie hätten auch hier, in Ihrer Gegend, ein völlig anderes Gehirn bekommen, je nachdem, in welche dieser Familien Sie hineingewachsen wären. Wie die unterschiedlichen Erfahrungen in einem anderen Kulturkreis hätten auch die unterschiedlichen Erfahrungen in so verschiedenen Familien dazu geführt, dass Sie ein anderer Mensch mit anderen Bewertungen, Vorlieben, Fähigkeiten und Fertigkeiten geworden wären. Und Sie ahnen auch, was dann sichtbar würde, wenn Sie – als jede dieser drei Varianten – von einem Gehirnforscher in einen Kernspintomographen geschoben und Ihr Gehirn mit dem verglichen worden wäre, mit dem Sie heute herumlaufen. Es würde bei jeder dieser Personen nicht nur sehr unterschiedlich flackern, wenn sie alle ein und dieselbe Aufgabe lösen müssten, wenn alle ein bestimmtes Bild betrachten würden oder wenn ihnen ein bestimmtes Musikstück vorgespielt würde.
    Möglicherweise wären sogar einzelne Bereiche in diesen verschiedenen Gehirnen unterschiedlich stark ausgeprägt. Sie hätten ja mit Ihrem Gehirn während Ihrer gesamten bisherigen Entwicklung in diesen verschiedenen Familien ganz unterschiedliche Dinge gemacht. Sie hätten auf anderes geachtet, Ihnen wäre anderes wichtig gewesen und Sie hätten sich an anderen Vorbildern orientiert. Sie hätten andere Vorstellungen übernommen, andere Fähigkeiten erworben, ein anderes Leben geführt. Dadurch wäre dann vielleicht der präfrontale Cortex dicker oder dünner geworden, oder Sie hätten einen größeren oder kleineren Hippocampus bekommen, oder irgendeine andere Hirnregion hätte sich stärker oder schwächer entwickelt, je nachdem, wie und wofür Sie Ihr Hirn in diesen verschiedenen Familien mit besonderer Begeisterung benutzt hätten.

Begeisterung ist Dünger fürs Hirn
    Die neuronalen Vernetzungen im Gehirn eines Kindes passen sich also an die Besonderheiten, Anforderungen und Notwendigkeiten an, die in einem bestimmten Kulturkreis oder einer bestimmten Familie herrschen. Deshalb bekommt jedes Kind ein Gehirn, das genau zu der Familie und dem Kulturkreis passt, in den es hineinwächst. So scheint es auf den ersten Blick zu sein, aber so einfach ist es nicht.
    Damit neue neuronale Vernetzungen geknüpft und bestehende Vernetzungen ausgeweitet und stabilisiert werden können, reicht es nicht aus, dass man diese Verschaltungen einfach nur sehr häufig benutzt. Wenn das so wäre, könnten wir ja alles lernen, wenn wir es nur lange genug trainieren. Wir lernen aber nicht alles. Wir lernen nur das, was für uns wichtig ist. Und was ihm wirklich wichtig ist, wofür sich ein Mensch – als kleines Kind oder als Greis – interessiert und deshalb

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