Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks (German Edition)
solche, die wir erst durch diesen Traum kennen lernen. 47
In den Träumen geht Seltsames vor: Oft sind wir anwesend in unseren Träumen, so, wie wir uns im Wachen auch etwa wahrnehmen. Gelegentlich aber sind wir viel jünger als wir aktuell sind, manchmal auch viel älter. Diese Art von Träumen regen einen Lebensrückblick an. Sie bringen uns dazu, uns zu erinnern und uns zu fragen, warum wir uns denn gerade jetzt daran erinnern sollten und was das für unser aktuelles Leben und auch die aktuellen Fragestellungen bedeutet. Der 85-Jährige, der seiner Aussage nach mutlos geworden ist, weil er jetzt so sehr von fremder Hilfe abhängig ist, träumt von einem sehr mutigen, jungen Mann. Mehr kann er nicht erzählen: nur, dass dieser voll Kraft und mutig war. Er freute sich über diesen Traum und sagte dazu: »Ich habe mich wohl in den letzten Wochen etwas zu sehr ›alt‹ benommen – ein wenig Energie habe ich doch noch – und Mut auch für die sicher schwierige nächste Zeit.«
Gelegentlich bringen die Träume, gerade die Träume älterer und sehr alter Menschen diese auch dazu, noch Ausstehendes zu sehen und zu verändern: Ausstehendes, das noch verarbeitet werden will, damit das Leben sich abrunden kann.
Noch Ausstehendes wahrnehmen
Eine 85-jährige Frau hat einen Traum, der sich in letzter Zeit oft wiederholt und über den sie sprechen möchte, den sie verstehen möchte: »Er muss doch etwas bedeuten.«
»Ich musste im Traum ein kleines Mädchen hüten. Eigentlich habe ich das gerne gemacht. Es ist mir immer wieder auf den Schoß geklettert. Aber es war auch ein lautes, wildes Mädchen – dann wusste ich nicht, wo sie ist. Dann hatte ich große Angst. Irgendwie wollte ich die Verantwortung für das Mädchen abgeben. Aber niemand war da. Es kam dann auch immer wieder. Diesen Traum habe ich schon ein paar Mal geträumt. Ich fühle mich dann immer überfordert. Das Mädchen ist sehr nett, es gleicht meinen Urenkelinnen, aber es ist auch anders. Es hat meine Augen, glaube ich. Aber das Mädchen ist zu wild. Es macht, was es will. Es ist doch nicht normal, dass eine so alte Frau wie ich noch so ein Kind hüten muss. Aber es war auch schön.«
Im Gespräch über das wilde Mädchen erinnerte sich die Träumerin daran, dass sie wirklich ein wildes Mädchen gewesen war und ihrer Mutter viel Kummer bereitete. Das tat ihr leid. Jetzt würde sie ihrer Mutter gerne sagen, was ihr alles leid tut. Das war eine ganze Menge. Und natürlich kann man solches Bedauern in Worte fassen. Diese Frau sprach ihre schon seit langem tote Mutter einfach an: »Es tut mir leid, dass ich dich oft geängstigt habe, weil ich einfach verschwunden war. Es tut mir leid, dass ich dir deinen einzigen schönen Hut zerschnitten habe … Ich würde es gerne wieder gut machen, aber es ist jetzt wirklich zu spät. Ich muss das so annehmen. Ich war schrecklich – aber nicht nur. Ich habe dir von meinen unerlaubten Streifzügen auch Heidelbeeren gebracht, die du so gern gegessen hast.« Indem sich die Frau imaginativ in verschiedene Situationen ihres Lebens als Kind und als Jugendliche zurückversetzt, werden verschiedene Gefühle lebendig. Sie fühlt sich angeregt und in Kontakt mit sich selbst. Eine Versöhnung mit sich als wildem Kind wird möglich, eine Versöhnung mit der Mutter, die sie als so streng erlebt hatte, und die ihr nun im wohlwollenden Rückblick eher als überfordert erschien, und die Hoffnung, dass diese »Entschuldigung« irgendwie noch ankommt.
Natürlich könnte man hier weiterarbeiten, um wirklich zu einer Versöhnung zu kommen, aber das war nicht das Hauptthema, das diese Frau behandelt haben wollte.
Es ging ja um ihren Traum. Und die Frage stellt sich: Warum beschäftigt sie dieser Traum jetzt so sehr, dass sie mit einer Therapeutin darüber sprechen möchte?
Die Träumerin wohnt in einer Alterssiedlung. Aber ihr Sohn möchte, dass sie »betreuter« wohnt. Sie findet das nicht notwendig: »Ich bin noch nie hingefallen, wasche mich, gehe aus, koche – also was will der?« Sie stellt im Gespräch fest, dass sie sich ihrem Sohn einfach entzieht – wie das wilde Mädchen. Sie ist überzeugt davon, nicht ruhig mit ihm sprechen zu können. »Das kann man mit ihm einfach nicht.« Er findet sie »störrisch«. Sie: »Das wird man halt im Alter, oder?«
Aber auf jeden Fall muss man sich um dieses Kind kümmern. Und dann sagt sie laut, und bekräftigt durch Schlagen mit der Hand auf die Lehne des Sessels:
»Immer hat
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