Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks (German Edition)
noch eine 74-Jährige, wie ich in 15 Jahren sein werde. Kann ich da schon Urgroßmutter sein?
Ich denke, da habe ich einen unsicheren Gang und sitze am Fenster und schaue hinaus. Aber vielleicht noch nicht. Ich spiele Schach mit meinem Mann und falls er gestorben ist, gegen den Computer.
2. Phase: Die Einladung findet statt
Ich lade in den Garten ein. Die Kleine fährt mit dem Dreirad, die gefällt allen gut. Die 10-Jährige langweilt sich. Die 24-Jährige, die 26-Jährige, die 46-Jährige – sie stehen alle um die 14-, 15-Jährige herum. Es passiert nicht viel. Sie sprechen über »vertanes Leben«. Da fegt die 38-Jährige herein, strahlend, überfährt alle anderen, spricht von tollen Erfahrungen. Das pubertierende Mädchen kritisiert sie sofort: So etwas macht man nicht! Die 74-Jährige schaut zu und fragt sich, ob das jetzt gut oder schlecht sei und weiß auch keine Antwort.
Es gibt noch eine andere 38-Jährige: die »Mami« – auch großzügiger als früher, freudiger. Es gibt noch die 38-Jährige als Ehefrau mit schlechtem Gewissen, die an Treue und Ausschließlichkeit glaubt. Die sind plötzlich auch da. Aber es gibt vor allem die 38-Jährige als Geliebte. Sie stellt die Frage: Wäre es denn möglich, noch einmal auszubrechen? Noch einmal fasziniert zu sein?
Die 14-, 15-Jährige ist dagegen, die 74-Jährige gibt zu bedenken, dass eigentlich nur die kleinen Mädchen und die 38-Jährige so richtig lebendig wirkten. Vielleicht sollte man Treue doch nicht nur als Ausschließlichkeit verstehen?
Wie wirkt diese Übung?
»Ich erinnere mich an mich selbst in verschiedenen Altern, in verschiedenen Stimmungen, mit verschiedenen Ansichten. Nachdenklich gemacht hat mich dieser angestrengte Zug, den ich immer wieder habe, dieses Verkniffene. Was ist zwischen 10 und 14 geschehen, dass ich mich so verändert habe? Hier werden nun lebensgeschichtliche Reminiszenzen erinnert. Diese Erinnerungsarbeit mündet in die Frage: Muss das jetzt immer so weiter gehen? Noch bin ich jung genug, um etwas zu verändern.«
Haben wir genug Geduld, und sind wir angstfrei genug, den einzelnen Ich-Gestalten in der Imagination ein Eigenleben zu gestatten, stellt sich ein Gefühl des Beisichseins ein, eine Verlebendigung. Es werden aber auch Widersprüche in der eigenen Identität sichtbar: Gelegentlich wird gerade ein Aspekt unserer Identität nicht eingeladen, weil man diese Seite nicht sehen und sich mit ihr nicht auseinandersetzen will.
Diese Übung kann erweitert werden, indem man die Ichs und die Beziehungspersonen zusammen einlädt. Es ist ja etwas künstlich, sich als einzelne Person zu sehen. Wir stehen immer auch in Beziehungen. Während des Lebensrückblicks als »Einladung der inneren Mannschaft« wird immer wieder die Frage gestellt: »Kann ich meinen Mann auch dazu holen? Kann ich meine Freundin aus jener Zeit dazu holen?« Das ist eine Erweiterung dieser Übung: Der Lebenskontext und damit wichtige emotionale Erinnerungen aus dem Beziehungsleben, Liebe und Verlust, werden mit einbezogen. Dadurch können aber gerade auch Aspekte des Ichs untergehen: Es gibt Menschen, die dann nur noch diese Beziehungspersonen zum Zuge kommen lassen und die Ich-Persönlichkeitsanteile werden unwichtig. Das kann dann ein Hinweis dafür sein, dass diese Menschen die Tendenz haben, sich in anderen Menschen zu verlieren, dass die Balance zwischen dem Ich und dem Anderen bei ihnen leicht gestört werden kann. Ja, und wer mit Tieren lebt, wird Tiere dazu holen.
Die Suche nach dem Schatz
Der Lebensrückblick konzentriert sich gern auf die Kinderzeit. Natürlich ist das eine dichte Zeit, in der alles begonnen hat. Es ist aber auch die Zeit, in der man noch nicht die Verantwortung für das eigene Leben übernehmen musste. Vieles, was im späteren Leben als ambivalent, wenn nicht gar als quälend erlebt wird, ist in der Kinderzeit noch weniger quälend.
Für manche Menschen gibt es Kinderfantasien, die damals für eine längere Zeit bestimmend waren, und sie fragen sich, was denn aus diesen Wünschen und Fantasien geworden ist.
Ein 76-jähriger Mann erzählt, er habe sich als Junge immer wieder vorgestellt, er werde eines Tages einen Schatz finden – und dann unermesslich reich und vor allem auch berühmt sein. Mit diesem Schatz könnte er seinen Eltern, die wenig Geld hatten, alles kaufen, was sie sich wünschen würden. Natürlich hatte er auch Geschichten von einem verborgenen Schatz gelesen, er kannte Märchen, in denen ein
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