Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks (German Edition)
Wohlwollen, das man einander entgegengebracht hat und das in einem gewissen Maße immer noch vorhanden ist.
Viele Freundschaften haben eine große Kontinuität, überleben viele Stürme im Leben. Die Kontinuität ist auch wichtig für die Erfahrung der Identität. Manchmal sind Freunde und Freundinnen unser Gedächtnis: Sie wissen besser als wir selbst, was uns in einem bestimmten Lebensabschnitt als Persönlichkeiten auszeichnete. Was uns interessierte, wie ein Schicksalsschlag auf uns gewirkt hat, wie wir eine gewisse Entscheidung getroffen haben und vieles mehr. Gemeinsam kann man an der Erinnerung arbeiten. »Weißt du noch? …« So etwas schweißt zusammen. Wenn es noch beste Freundinnen und Freunde gibt, so ist auch das gemeinsame »Zurückblicken« sehr anregend. Das heißt aber nicht, dass man die Vergangenheit in einer gleichen Weise erinnert: Aber auch das muss eine Freundschaft überstehen.
Bei einem Lebensrückblick werden wir uns auch daran erinnern, dass wir uns mit Freundinnen oder Freunden zerstritten haben, dass es Zerwürfnisse gab, Vertrauensbrüche, Enttäuschungen, Beziehungsabbrüche, die noch immer schmerzen. Vielleicht ist jetzt der Moment, das Ganze etwas gelassener zu betrachten und vielleicht auch zu akzeptieren, dass uns gewisse Lebenssituationen einfach nicht gut genug gelungen sind. Auch das gehört zu einem Leben.
Nicht selten mündet der Lebensrückblick in den Wunsch, die Kinderfreundin, den Jugendfreund wieder »aufzustöbern« – sich noch einmal mit diesem Menschen zu treffen, sich auszutauschen. Das gelingt heute mit Hilfe des Internets ziemlich gut: Man holt sich dabei ein Stück des früheren Lebens zurück.
Mit dem Rückblick auf die Freundschaften ist auch ein Rückblick auf die Interessen, die verschiedene Lebensabschnitte geprägt haben, möglich. Diese nämlich hat man in der Regel mit Freunden oder Freundinnen geteilt.
Die Geschichte unserer Freundschaften oder aber auch die Geschichte unserer Beziehungen zu Menschen, die uns maßgeblich beeinflusst haben, ohne dass sich die Nähe einer Freundschaft ereignet hat, und denen wir dankbar sind, gehört unbedingt zu einem Lebensrückblick. Natürlich gehört dazu auch die Geschichte unserer Liebesbeziehungen – aber die sind uns meistens präsenter, darüber haben wir schon oft gesprochen.
Und aktuell: Können wir uns vorstellen, neue Freundschaften einzugehen? Wenn nicht, warum nicht?
Die Bedeutung von Träumen
Freundinnen und Freunde, andere wohlwollende Menschen, das ist ein soziales Netzwerk, in dem wir uns wohl fühlen, in dem wir geborgen sind oder waren. Diese Netzwerke sind unabdingbar wichtig, sie halten uns im wahrsten Sinne des Wortes: Sie geben Halt und bewirken, dass wir im Leben zuversichtlicher und weniger ängstlich sind. Verlieren wir Menschen, die zu diesem Netzwerk gehören, werden wir in unserem Lebensgefühl verunsichert. Es ist dann wichtig, neue Netzwerke zu knüpfen.
Zum Glück haben wir nicht nur äußere Netzwerke, sondern auch innere: In unseren Träumen treten oft Menschen auf: bekannte und unbekannte, hilfreiche, weniger hilfreiche. Was wollen die in unseren Träumen? In Träumen können schon lange verstorbene Menschen auftauchen, meistens sind sie etwas jünger als zur Zeit ihres Todes, und meistens wirken sie recht gesund.
Wie ist es möglich, dass ich im Traum ein Gespräch über Schopenhauer führe mit meinem vor 58 Jahren verstorbenen Großvater, der sicher nie Schopenhauer gelesen hat und der in dieser Zeit nicht nur nicht gealtert ist, sondern eher jünger und frischer wirkt? Beide wissen wir im Traum nicht, dass er schon lange gestorben ist. Ich habe mich gefreut, ihn wieder einmal zu sehen – und sofort erinnere ich mich an Situationen meiner Kindheit mit meinem Großvater, wundere mich aber auch über seine Beziehung zu Schopenhauer oder über den Zusammenhang meiner Beziehung zu meinem Großvater mit meiner gelegentlichen Schopenhauer-Lektüre. Aber ich denke auch darüber nach, wie sehr Träume Erinnerungen verknüpfen können, dass im Traum viel mehr Gedächtnisinhalte verknüpft werden als im wachen Leben, alte Inhalte, uralte Inhalte, Inhalte, die kulturell überliefert sind – und eben auch Erinnerungen an Menschen, die wir bereits verloren haben.
Wir allein träumen und erinnern unsere Träume. So können wir jede Gestalt, die im Traum auftaucht, als einen Aspekt unserer selbst verstehen. Jede Gestalt kann Züge unserer selbst zeigen, Züge, die wir kennen,
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