Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks (German Edition)
gelernt hatte, die ihm sehr freizügig zu sein schien und ihm offenbar große Angst einflößte. Später, so sagt er, habe er zutiefst bedauert, sich nicht auf sie eingelassen zu haben: »Aber sie passte nicht zu meinen Überzeugungen, und ich hatte damals auch Angst, ungewollt Vater zu werden. Aber immer wieder habe ich darüber gegrübelt, wie mein Leben sich entwickelt hätte, wenn ich damals nicht so charakterstark gewesen wäre? Das hat mich Jahrzehnte beschäftigt, jetzt nur noch gelegentlich, aber doch immer noch hin und wieder. So, wie wenn man eine falsche Abzweigung genommen hätte im Leben.«
Es gibt im Leben immer wieder Situationen, in denen man eine »Abzweigung« zu wählen hat. Wählt man sie nicht bewusst, entscheidet das Leben darüber. Und natürlich werden bei der Rekonstruktion des Lebensrückblicks solche Abzweigungen bewusst, von denen man im Nachhinein denkt, es wäre besser gewesen, den anderen möglichen Weg eingeschlagen zu haben, oder wo man sich zumindest wundert, wie denn das Leben verlaufen wäre, wenn …
Auch hier hilft uns unsere Imagination: Imaginativ können wir uns in jene Situation zurück versetzen, den damals ausgeschlagenen Weg in der Vorstellung ausschreiten und dabei wahrnehmen, was sich so ergibt.
Der 62-Jährige sieht sich als Neunzehnjährigen: unheimlich schüchtern, achtlos gekleidet, sicher unattraktiv für ein Mädchen, mit seinem Lehrabschluss beschäftigt. Und dann sprach ihn die Verkäuferin im Lebensmittelgeschäft immer wieder an, fragte, ob man nicht einmal zusammen etwas unternehmen könne. Er willigte ein – an das erinnere er sich noch genau – aufgeregt und mit einem schlechten Gewissen. Eigentlich – von heute aus gesehen – war es ganz harmlos: »Aber damals dachte ich, sie wolle mich gleich verführen, wolle vielleicht einen ›anständigen‹ Mann. Damals war es überhaupt nicht üblich, dass ein Mädchen einen Mann fragte … Ich brachte sie um zehn nach Hause. Wenn sie mir etwas näher kam, schuf ich wieder Distanz. Ich kaufte dann in einem anderen Laden ein, das war umständlich.«
So weit die Geschichte. Ich bat ihn, sich vorzustellen, er hätte sich auf das Mädchen eingelassen. Das, sagte er, habe er jahrelang fantasiert. In der Fantasie kam es dann zu lustvollen sexuellen Annäherungen. Weiter sei er nicht gekommen. Ich bitte ihn, sich ein irgendwie gemeinsames Leben vorzustellen. Er kichert: »Ja, das wäre am Anfang wohl aufregender gewesen. Wir hätten dann Kinder bekommen, gearbeitet – vielleicht wäre das Leben lustvoller gewesen. Aber ich habe in meinem Leben dann doch auch viel dafür getan, dass es auch Freude gab. Und die Kinder haben mir große Freude gemacht und jetzt die Enkel. Und ich habe ja auch im späteren Leben eine sexuell erfüllende Beziehung gefunden. Vielleicht war es doch nicht so falsch, jene Abzweigung nicht zu nehmen.«
Versucht man, sich an den Ort des Lebens zurück zu begeben, an dem man eine im Nachhinein als günstig angesehene Richtung nicht eingeschlagen hat, kann man wenigstens imaginativ noch einmal versuchen, damit umzugehen. Es kann eine schwierige Problematik sein und das gewählte gelebte Leben kann sich daher als die schlechtere Möglichkeit darstellen, nicht als das Eigentliche: Unbewusst ist man dann jedoch immer noch bei dieser Abzweigung, obwohl das Leben weiter gegangen und auch gut ist. Im Hintergrund meldet sich immer noch die Frage: »Was wäre geworden, wenn …« Und diese Frage bewirkt, dass das gelebte Leben zu wenig wertgeschätzt wird.
Begibt man sich jedoch imaginativ an die Entscheidungssituation zurück und gelingt es, sich in der Imagination ein Leben mit diesem Menschen vorzustellen, dann werden natürlich auch Probleme sichtbar, die diese Entscheidung mit sich gebracht hätte. Und dann wird einem bewusst, was man denn doch auch an Gutem im eigenen Leben hat. Manchmal gelingt es dann, diese nach rückwärts gelenkte Sehnsucht zu opfern und sich zu fragen, ob Aspekte, die dort aufleuchteten, in anderer Form im jetzigen Leben noch gelebt werden können.
Mit der Sehnsucht, die immer auf etwas Größeres weist, nähern wir uns der Spiritualität.
Religiöse und spirituelle Aspekte unserer Biografie
Ein wichtiger Aspekt jedes Lebensrückblicks ist die religiöse oder spirituelle Entwicklung, die man durchmachte, die Brüche darin und die Wandlungen.
Wie war unsere religiöse Sozialisierung, oder die Erfahrung, dass wir nicht religiös sozialisiert worden sind, also anders
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