Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks (German Edition)
mit der Umgebung, in der das Kind beheimatet ist. Aspekte der elterlichen Religiosität oder Nichtreligiosität werden ebenso sichtbar wie Ansätze kirchlicher Überlieferung. Und so kann man als Erwachsener auch reflektieren, in welchem gesellschaftlich-religiösen Klima die jeweiligen religiösen Erfahrungen gemacht worden sind.
Stellt man nun, über die Erinnerung hinaus, diese Gottesbilder der frühen Kindheit zeichnerisch oder malerisch dar, so können Aspekte zum Ausdruck kommen, die in der erinnernden Erzählung gefehlt haben.
Ausgehend von der These, dass sich in den religiösen Gefühlen die grundlegenden Lebensgefühle des Kindes äußern, liegt der Schluss nahe, dass in Zeiten, in denen das Lebensgefühl sich grundlegend verändert, sich auch das religiöse Gefühl und die religiösen Interessen verändern. Auch persönliche Krisen, Zeiten der großen persönlichen Belastung im Leben eines Kindes, etwa dem Verlust einer ihm nahe stehenden Person, wirkt sich auf das religiöse Erleben aus.
Interessant ist im Zusammenhang mit den religiösen Erfahrungen der Lebensübergang der Pubertät und der nachfolgenden Adoleszenz, verbunden mit der Frage, wie Sexualität und Religiosität sich zueinander verhalten, eine Frage, die manche Menschen durch das ganze Leben begleiten. Wer in diesem Alter Tagebuch geschrieben hat, findet in seinen Aufzeichnungen meistens viel Material hierzu.
Mit der Ablösung von den Eltern und den Elternkomplexen 53 wird oft auch der Kinderglaube, den wir mit uns tragen, zur Disposition gestellt. Es setzt eine neue Suche ein nach dem, was für uns »Gott« oder das »Übermächtige« oder die numinose Erfahrung sein könnte. Das ist nicht etwas, das man findet, sondern etwas, das man immer wieder neu sucht. Auf jeden Fall werden in der Pubertät und der Adoleszenz nicht nur die Eltern hinterfragt, sondern auch die religiösen Überzeugungen. Diese werden aber im Laufe des Lebens immer wieder hinterfragt, bezweifelt und auch verändert.
André Comte-Sponville, ein ehemaliger Philosophieprofessor, hat sich in seinem Buch »Woran glaubt ein Atheist? Spiritualität ohne Gott« 54 in groben Zügen, eingebettet in grundsätzliche Überlegungen zu Religion und Spiritualität, mit seiner eigenen religiösen Biografie auseinandergesetzt: »Ich weiß, wovon ich spreche …Ich bin nicht nur christlich erzogen, ich habe an Gott geglaubt, mit einem sehr lebendigen, wenn auch von Zweifeln durchzogenen Glauben, bis ich ungefähr achtzehn war. Dann verlor ich den Glauben, und es war wie eine Befreiung: Alles wurde einfacher, leichter, offener, stärker!«
Von diesen Erfahrungen ausgehend spricht er dann von spirituellen Erfahrungen seines späteren Lebens: »Dieses Gefühl, eins mit dem Ganzen zu sein, das habe ich erlebt, wie viele von uns, und ich habe seither nichts Köstlicheres, nichts Aufwühlenderes, nichts Beruhigenderes erlebt.« 55
Unter Spiritualität kann man eine freiheitliche, offene spirituelle Praxis verstehen – eine kontinuierliche Beziehung zwischen außen und innen, bei der es um Erfahrungen geht, die uns emotional tief berühren, die uns ganz versunken sein lassen in einer Erfahrung. Spiritualität kann sich zeigen als Sehnsucht nach Erfahrungen von Einheit: Einheit mit sich selbst, mit der Natur, mit der Umwelt, mit der Mitwelt. Sie zeigt sich im aktuellen Leben, mit dem aktuellen Leib, den Freuden und Leiden, die damit verbunden sind. In einer mystisch-sozialen Dimension der Spiritualität möchte diese Einheitserfahrung mit Menschen geteilt werden: Man fühlt sich auch für andere Menschen verantwortlich. 56 Spiritualität so besehen ist nüchtern, auch mit dem Leib verbunden. Sie ist als Sehnsucht nach Sinn zu verstehen, nach Lebensfülle, nach Lebendigkeit. Sie zeichnet sich durch eine große Offenheit zur Außen- und zur Innenwelt aus, in den Worten Comte-Sponvilles: Bekennen statt Glauben, Handeln statt Hoffen, Liebe statt Furcht oder Unterwerfung. 57
Im Fehlen von spirituellen Erfahrungen und damit auch Sinn-Erfahrungen liegt nach C. G. Jung eine der Ursachen psychischer Schwierigkeiten: »Unter allen meinen Patienten jenseits der Lebensmitte, das heißt jenseits 35, ist nicht ein Einziger, dessen endgültiges Problem nicht das der religiösen Einstellung wäre. Ja, jeder krankt in letzter Linie daran, dass er das verloren hat, was lebendige Religionen ihren Gläubigen zu allen Zeiten gegeben haben, und keiner ist wirklich geheilt, der seine religiöse
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