Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks (German Edition)
waren als die anderen? Wie haben wir als Kind die »religiösen Gefühle« erlebt, wie haben wir sie ausgedrückt?
Die Vermittlung religiöser Kultur erfolgte zunächst durch die Eltern und durch die Religionsgemeinschaften. Es geht dabei um den Zusammenhang von tragenden Sinnerfahrungen und der kirchlichen Sozialisation. Erinnern wir Rituale, die uns Freude gemacht haben, uns noch Freude machen oder an die wir uns so schön gewöhnt haben? Welche Sinnerfahrungen können wir identifizieren, wann fühlten wir uns ergriffen? Und was ist daraus geworden?
Der Zugang zur religiösen Biografie fällt vielen schwer: zumindest, wenn sie mit anderen darüber sprechen müssten. Es scheint in der heutigen Zeit leichter zu sein, sich über die Sexualität auszutauschen als über das, was wir »glauben«, über das, was uns letztlich trägt. Über das zu sprechen, was wir nicht oder nicht mehr glauben, ist in der Regel einfacher.
Den Zugang zur religiösen Biografie findet man meistens etwas leichter über die religiösen Erlebnisse und die damit verbundenen Gefühle des etwa fünf- bis siebenjährigen Kindes.
Über die körperliche Erinnerung an Bewegungen, die einem als Kind große Freude gemacht haben, kann man sich in das Kind, das man einmal war, hineinversetzen. 52 Einmal emotional in diese Zeitspanne des Lebens zurückversetzt, können Erinnerungen an Gebete und Lieder mit Eltern und Geschwistern, an Lebenssituationen, die einen gepackt haben, erinnert werden. Diese Erinnerungen sind oft verbunden mit Festtagen und damit auch mit Musik: etwa mit den Weihnachtsgottesdiensten, an denen man schon als noch kleines Kind teilnehmen durfte, der Musik und den Liedern. Damit sind auch viele Fantasien verknüpft, die erinnert werden können: Ich war zum Beispiel davon überzeugt, dass durch die Orgel der »liebe Gott« spricht – manchmal zart, oft ziemlich brüllend. Aber es hat mir gut gefallen. Das war für mich wohl eines der ersten Geheimnisse, das ich gehütet habe.
Aus der Rekonstruktion religiöser Biografien von Studenten und Studentinnen lässt sich schließen, dass die meisten Menschen ein kindliches Gottesbild erinnern. Es ist oft ein Bild vom »lieben Gott«, der nicht selten einem Großvater gleicht. In diesem Gottesbild sind sowohl das grundlegende Lebensgefühl des Kindes als auch das damalige Selbstgefühl ausgedrückt. Dieses Gottesbild ist oft mit Naturerlebnissen verknüpft, etwa mit den Sternen am Himmel. Ob es wirklich um diese Sterne am Himmel ging oder eher um die aus dem vielen bekannten Lied: »Weißt du, wie viel Sternlein stehen an dem blauen Himmelszelt …Gott der Herr hat sie gezählet, dass ihm auch nicht eines fehlet …«, bleibt offen. Dieses Lied vermittelte Generationen von Kindern das Gefühl großer Geborgenheit: Man fällt nicht aus dieser Schöpfung – auch wenn es einem bald klar wird, dass Gott mit diesem Zählen doch sehr viel Arbeit hätte. So fragt ein heutiges Kind angesichts dieses Liedes: »Und wenn Gott sich vertut?« – und ein anderes antwortet prompt: »Der hat doch die besten Computer!« Die Erfahrung vom »lieben Gott« kann auch verbunden sein mit weiteren Naturerlebnissen: Etwa mit Gewittern, mit Blitzen und mit Donnergrollen, aber auch mit Sonnenaufgängen und untergängen an besonderen Orten. Nicht selten gibt es auch schon bei kleineren Kindern zwei Formen der Gotteserfahrung: Der Gott, der sieht, dass man etwas Böses macht und der Gott, der – gelegentlich auch mit Hilfe der Engel – Schutz bietet. Daraus ergeben sich auch die häufig anzutreffenden Fantasien von einem unsichtbaren Begleiter, einer unsichtbaren Begleiterin, für das Kind: solche, die ständig kontrollieren, Unterwerfung fordern und die man günstig stimmen muss, und die anderen, die helfen, mit den Schwierigkeiten des Lebens umzugehen. Diese sind besonders dann wichtig, wenn die Geborgenheit in Frage gestellt wird, etwa beim Tod eines Elternteils. Der Blick Gottes auf das eigene Leben und der Blick der Eltern und anderer Autoritätspersonen vermischen sich hier.
Es scheint, dass erinnerte religiöse Gefühle und Erlebnisse des jungen Kindes unmittelbar Ausdruck seines Hauptlebensgefühls sind. Durch die Rekonstruktion der religiösen Biografie ist es möglich, an grundlegende Lebensgefühle im Alter von fünf bis zehn Jahren heranzukommen. Diese grundlegenden Lebensgefühle sind mit den Beziehungspersonen, meistens den Eltern, eng verbunden. Aber darüber hinaus stehen sie schon in Verbindung
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