Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks (German Edition)
Einstellung nicht wieder erreicht, was mit Konfession oder Zugehörigkeit zu einer Kirche natürlich nichts zu tun hat.« 58
Erfahrungen von Einheit können im Laufe eines Lebens immer einmal erlebt werden. Diese müssen sich aber nicht in der Ikonografie der großen Religionen darstellen, sondern können sich der Ikonografie eines übergeordneten Ganzen bedienen. Das Gefühl der Ganzheit und der Sinnhaftigkeit, oft ausgelöst durch ein Gefühl der Ergriffenheit, kann auch erlebt werden in einem schöpferischen Prozess, bei Erfahrungen in und mit der Natur, bei der Betrachtung eines Kunstgegenstandes, in der Liebe, bei einer Erfahrung von Schönheit, beim Zusammensein mit Menschen, usw. So könnte man die Sehnsucht nach Einheitserfahrungen, nach Sinnerfahrungen als Spiritualität bezeichnen und das Erleben davon als gelebte Spiritualität. Dabei scheint mir besonders wichtig zu sein, dass sich Spiritualität im konkreten Lebensvollzug ereignet und die emotionale Ergriffenheit das Wesentliche ist.
Und was sind jetzt aktuell unsere tiefsten Erfahrungen, von denen wir uns ergreifen lassen? Es ist schwierig, die gegenwärtigen religiösen oder spirituellen Erfahrungen, Haltungen und Überzeugungen zu erfassen. In Seminaren zur Rekonstruktion der religiösen Biografie war die folgende Imaginationsanweisung hilfreich, um sich an die aktuelle religiöse, spirituelle Situation heranzutasten:
»Stellen Sie sich vor, mit einem lieben Menschen unter einem Baum an einem Fluss oder Bach zu sitzen und erzählen Sie diesem Menschen, was für Sie im Moment trägt im Leben, was Sinn gibt, was Sie eine religiöse oder spirituelle Dimension in Ihrem Leben nennen.«
Diese Imaginationsanweisung stimuliert mit dem Baum symbolisch den Wachstumsprozess, das persönliche Gewachsensein als Person; mit dem Fluss stimuliert sie den Aspekt des Fließenden im Leben, des Vorübergehenden. Und die Aufforderung, einem Menschen etwas über die religiöse Biografie zu erzählen, beachtet den Aspekt, dass Menschen immer in Beziehung zu anderen Menschen stehen. Zudem wird das vorstellungsbezogene Erzählen angeregt.
Letztlich ist es für jeden Menschen interessant zu wissen, worin seine religiösen Überzeugungen wurzeln, wie sie sich verändert haben, und auch, wo das Gottesbild der frühen Kindheit geblieben ist:
Wo ist die Hingabe geblieben, die damals so wunderschön war? Leben wir sie in einem anderen Lebensbereich? Oder haben wir sie verloren? Wo ist die Leidenschaft, wo die Geborgenheit geblieben? Gibt es Rituale, auf die ich in schweren Zeiten zurückgreife? Oder die ich dann schmerzlich vermisse? Gibt es überhaupt noch die Sehnsucht nach Spiritualität – oder gibt es nur noch die Materie? Und: Was verstehe ich unter Spiritualität? Verändert die Nähe zum Tod die Weltanschauung? Wenn ja, wie?
Im Rahmen der Rekonstruktion der religiösen Biografie werden natürlich auch Verletzungen erinnert, Engführungen des Lebens, die man im höheren Leben bedauert: »Warum war ich immer so brav?« – das ist ein Satz, den ich von vielen Frauen gehört habe, die den Eindruck hatten, sie hätten Wichtiges in ihrem Leben versäumt. Das Bravsein brachten sie damit in Verbindung, dass sie die durch die Religion vermittelten Normen nie wirklich hinterfragt hatten. Gerade weil es im religiösen und spirituellen Erleben um tiefe Gefühle geht, Gefühle des Einsseins mit etwas, das Geborgenheit vermittelt, kann man auch tief verletzt werden. Und dann stellt sich die Frage, ob es gelingt, diese Verletzungen als Tatsachen noch einmal wahrzunehmen und dann auch loszulassen, oder ob man daran festhalten muss.
Kultur als Ressource
C. G. Jung meinte, die Langlebigkeit des Menschen müsse einen Sinn haben, denn der Lebensnachmittag könne nicht nur ein »klägliches Anhängsel des Vormittags« sein. Er fragt sich, ob die Entwicklung von »Kultur« Sinn und Zweck der zweiten Lebenshälfte sein könnte. Besonders heute, bei unserer hohen Lebenserwartung, lohnt es sich, dieser Frage nachzugehen. Denn Kultur hilft uns auch, das Alter besser zu bestehen, wenn wir sie als den schöpferischen Ausdruck des Menschen verstehen, der erhalten und weiter gestaltet werden kann und der allen Menschen zur Verfügung steht und zur Weiterentwicklung anregt. Sich schöpferisch auszudrücken, schließt ein, nicht einfach auf den Tod zu warten, sondern das Leben zu gestalten. Kultur entsteht dadurch, dass Menschen sich miteinander austauschen, dass wir uns auf
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