Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks (German Edition)
erlebt haben – im Gegensatz zu all den Geizigen, Neidischen.
Zwar kann Dankbarkeit in einer bestimmten Lebenssituation aufblitzen und man hat dann auch das Bedürfnis, sie auszudrücken, dem anderen Menschen auch etwas zu geben. Die Freude, die Bereicherung, die man erlebt hat, ruft danach, dass man dem Menschen, der uns solches zukommen ließ, auch wieder etwas zurückgibt. Und dennoch ist da doch eine Schwelle, die zu überschreiten ist, und wir haben weniger Dankbarkeit ausgedrückt, als emotional stimmig gewesen wäre. Nicht selten erlebt man beim Rückblick auf das Leben, dass man einem bestimmten Menschen viel dankbarer ist, als man es je zum Ausdruck gebracht hat, und dass man diese Dankbarkeit gerne noch formulieren würde: Formulieren würde, wie wichtig dieser Mensch für einen in einer bestimmten Phase des Lebens, in einer bestimmten Situation gewesen ist. Und nicht selten sind die Menschen, denen wir dankbar sind, schon längst gestorben.
Was ist das für eine Schwelle, die zu überschreiten ist, und die wir oft nicht überschreiten? Um dankbar sein zu können, muss man es aushalten, dass man nicht alles allein machen kann, sondern dass man Wichtiges von anderen Menschen bekommt, dass wir immer in Beziehungen leben und von guten Beziehungen auch abhängig sind. Das bestätigen wir, indem wir unsere Dankbarkeit ausdrücken. Dankbar zu sein bedeutet, dem anderen Menschen etwas Gutes zu attestieren und sich selbst als jemanden, der in dieser Situation etwas bekommen hat, dem dieses Gute vielleicht lebenswichtig war. Es geht darum, dem anderen Menschen zu gönnen, dass er oder sie etwas entscheidend Gutes in unser Leben getragen hat. Gönnen kann der neidische Mensch aber nicht. Da, wo wir neiden, haben wir den Eindruck, vom Schicksal stiefmütterlich bedacht worden zu sein, zu kurz gekommen zu sein. Der Mensch, der Neid erregt, scheint mit allen Gaben gesegnet zu sein und er hat – so sehen es die Neider oder die Neiderinnen – ihnen etwas weggenommen, das eigentlich ihnen gehören würde, und das sie dringend auch bekommen müssten: Es ist ungerecht, dass der andere das kann, sie aber nicht. Also ist der andere oder die andere schuld an dem bohrenden Gefühl des Ungenügens. Wenn wir neidisch sind, müssten wir aber den anderen Menschen übertreffen, und wir wissen, dass wir es nicht können. Das ist die Qual des Neidens. Wir können uns dann nicht freuen an der Schönheit eines Menschen oder einer Situation, an der Leistung eines anderen. Wir möchten zerstören, was unseren Neid erregt. Meistens geben wir das nicht zu, auch nicht vor uns selbst: Wir wissen, Neid gehört in die Familie von Undankbarkeit und Schadenfreude, wie Kant sagt. 72 Wer in einem umfassenden Sinne neidisch ist, müsste alles, was es im Lebensumkreis gibt, selbst und allein machen, sonst sollte es besser nicht existieren, um nicht den Neid und die damit verbundene, oft versteckte Destruktivität heraufzubeschwören. Bekommt der Neider oder die Neiderin von jemandem etwas Gutes, dann fühlt er oder sie sich automatisch weniger gut und müsste doch auch … und sogar noch mehr … Es geht nicht mit rechten Dingen zu, das Leben ist einfach ungerecht. So erlebt man es und so ist es wohl auch. Deshalb bemühen wir Menschen uns so sehr um Gerechtigkeit.
Es mag mit dem Neid zusammenhängen, dass man nicht dankbar sein kann, sich sogar Menschen gegenüber, denen man eigentlich zu Dankbarkeit verpflichtet wäre, besonders undankbar oder gar entwertend verhält. Würde man dem anderen Menschen zugestehen, dass man von ihm oder von ihr etwas Bedeutsames, etwas Wertvolles bekommen hat, dann müsste man ihn zerstören, weil er den Neid weckt, weil er ein Mensch ist, der einem vermeintlich etwas wegnimmt. 73 – So wenigstens denkt der Neider, denkt die Neiderin.
Offenbar werden die meisten Menschen im Alter weniger neidisch. Sie werden gönnender, und deshalb können sie auch dankbarer werden. Mehr einverstanden mit sich selbst, weniger egoistisch, können sie auch besser verstehen, dass wir alle in einem Netz von vielfältigen Abhängigkeiten versuchen, dennoch auch autonom zu sein. Wir versuchen unser Leben so zu leben, dass wir auch anderen etwas gönnen können. Wir erfahren Dankbarkeit und geben Dankbarkeit.
Aber nicht nur anderen Menschen gegenüber erlebt man Dankbarkeit, sondern auch Situationen gegenüber: Man ist etwa dankbar, dass man an einem Ort schreibt, der unbeschreiblich schön ist, dass es überhaupt so viel Schönes
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