Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks (German Edition)
denn sehen würde – und sich wieder seiner Flasche zuwandte. Sie dann, an ihrem Arbeitsplatz unter den entsetzten Augen der Chefin, die dann den Vorschlag machte, das Kind zur Adoption zu geben. Durch dieses imaginative Hineinversetzen in die damalige Situation, wurde ihr bewusst, wie schrecklich ihr Leben damals gewesen war, wie aussichtslos die Situation. Sie war entsetzt, die Luft blieb ihr weg. Unter diesem Eindruck fand sie dann, es sei eigentlich noch gut gewesen, dass sie das Kind zur Adoption frei gegeben hatte. Dankbarkeit für ihre Chefin erfüllte sie. Sie verstand jetzt das junge Mädchen, das sie einmal gewesen war. Sie war nachträglich empathisch mit sich selbst in dieser schwierigen Situation; sie verstand auch, dass dieses Mädchen sich nach menschlicher Wärme sehnte und sich auf diese Beziehung eingelassen hatte. Das hatte sie sich ein Leben lang zum Vorwurf gemacht. Sie entwickelte Respekt für das Mädchen von damals und hörte auf, sich rückwirkend zu zerfleischen: So war es halt gewesen, anders wäre es ihr lieber gewesen, aber jetzt war sie überzeugt, sie hatte das Beste gemacht, was sie damals machen konnte. Den Tod der Tochter verstand sie nicht mehr als Strafe.
Entscheidungen, die man bedauert, muss man aus der Situation verstehen, in denen sie entstanden sind, nicht aus der aktuellen Situation. »Jetzt kann ich mich wieder am Leben freuen«, stellte sie fest. Wichtig war ihr auch die Dankbarkeit, die sie ihrer Chefin gegenüber empfand. Diese Dankbarkeit würde sie ihr gerne noch ausdrücken – aber die Chefin ist schon längst gestorben.
Dankbarkeit
Dankbarkeit und das Erleben von Freude gehören zusammen. Man hat etwas bekommen, das Freude ausgelöst hat, und die Freude über diese Freude möchte man mit dem Urheber, der Urheberin dieser Freude teilen, indem man Dankbarkeit ausdrückt. Dankbarkeit ist geteilte Freude und damit zeigen wir, dass die Freude nicht uns allein gehört, dass am Entstehen der Freude immer auch andere Menschen beteiligt sind. Unsere Mitwelt war auch gut, nicht nur hinderlich, wie wir gelegentlich undankbar denken. Und indem wir dankbar sind, bezeugen wir, dass uns Gutes in unserem Leben zuteil worden ist. Zurückblicken im Leben kann man unter dem Aspekt der Dankbarkeit oder des Haders, des Vorwurfs, immer zu wenig bekommen zu haben. Beides ist wohl richtig – und je nach Stimmung wird die Dankbarkeit oder der Hader mehr im Mittelpunkt der Erinnerung stehen. Wenn es gut geht, dann erinnern wir uns daran, dass es nicht nur den Hader, sondern auch Gefühle der Dankbarkeit gibt und gab. Die Gefühle der Dankbarkeit helfen: Damit das, was in unserem Leben nicht gut war, sich nicht über Gebühr in den Erinnerungen ausbreitet.
Wo wir uns freuen, können wir auch Gefühle der Dankbarkeit hervorrufen. Ich freue mich an einem Gedicht, das mir einmal wichtig war und das ich wiedergefunden habe. Ich bin dankbar – nicht einem bestimmten Menschen – sondern unserer Kultur, in der es Gedichtsammlungen gibt, meiner Intuition vielleicht, die richtige Seite aufgeschlagen zu haben.
Wir sind Menschen dankbar, denen wir etwas verdanken, von denen wir etwas bekommen haben – es muss nicht viel sein: Ein aufmunterndes Wort im richtigen Moment, eine anregende Idee, eine Ermutigung. Andere Menschen, die uns lange ertragen haben und uns nie das Gefühl gegeben haben, wir seien unerträglich: Sie haben sich unsere Dankbarkeit redlich verdient. Meistens drücken wir unsere Dankbarkeit nicht aus, nehmen sie vielleicht auch nur am Rande wahr. Zwar bedanken wir uns oft, weil es die Höflichkeit gebietet, aber dieses überströmende Gefühl der Dankbarkeit, das uns erfassen kann, denken wir etwa an einen Menschen zurück, der auf unserem Weg wichtig war, ist noch einmal etwas ganz anderes:
Es macht uns froh, erfüllt uns mit Freude und es vermittelt uns die Erfahrung, für einen Moment oder für eine längere Zeit von einem Menschen etwas erhalten zu haben, das unserem Leben einen Halt, eine Richtung, eine Begeisterung geben konnte. Es ist mehr, als zu erwarten war, es ist besser, als zu erwarten war. Es war sogar überhaupt nicht zu erwarten, es ist freiwillig gegeben worden, weil der andere Mensch so ist, wie er ist: Etwa der begeisternde Lehrer, der in einem selbst die Begeisterung geweckt hat. Und es hat eine nachhaltige, fördernde Wirkung auf unser Leben.
Dankbarkeit empfinden wir Menschen gegenüber, die wir als gönnend, als gebend, als freigiebig, als großzügig
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