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Washington Square

Washington Square

Titel: Washington Square Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry James
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neigten dazu, ihr sogar ihre Liebesaffären anzuvertrauen (was sie gegenüber Mrs. Penniman niemals taten), und junge Männer hatten sie gern, ohne zu wissen, warum. Sie nahm ein paar harmlose Eigenarten an; die Gewohnheiten, die sie sich einmal angeeignet hatte, behielt sie ziemlich starr bei; ihre Ansichten in allen moralischen und gesellschaftlichen Angelegenheiten waren überaus konservativ; und noch ehe sie vierzig war, sah man sie als altmodische Person an und als Autorität hinsichtlich vergangener Gepflogenheiten. Verglichen mit ihr war Mrs. Penniman von geradezu mädchenhafter Gestalt; je weiter ihr Leben fortschritt, desto jünger schien sie zu werden. Ihre Neigung zu Schönheit und Geheimnistuerei blieb unverändert, aber sie fand wenig Gelegenheit, sie in die Tat umzusetzen. Es gelang ihr nicht, mit Catherines späteren Bewerbern so |261| vertrauliche Beziehungen anzuknüpfen wie diejenigen, die ihr so viele reizvolle Stunden in Morris Townsends Gesellschaft eingebracht hatten. Diese Herren brachten ihren vorteilhaften Diensten ein unbestimmbares Mißtrauen entgegen und sprachen niemals mit ihr über Catherines bezauberndes Wesen. Ihre Ringlein, Spangen und Armreifen glitzerten mit jedem weiteren Jahr noch strahlender, und sie blieb ganz die gleiche übereifrige und phantasievolle Mrs. Penniman und die sonderbare Mischung aus Ungestüm und Vorsicht, die wir bisher kennengelernt haben. In einer Hinsicht jedoch überwog ihre Vorsicht, und das muß man ihr gebührend zugute halten. Denn mehr als siebzehn Jahre lang erwähnte sie Morris Townsends Namen nie ihrer Nichte gegenüber. Catherine war ihr dafür dankbar, doch dieses beharrliche Schweigen, das so wenig dem Charakter ihrer Tante entsprach, erregte eine gewisse Unruhe bei ihr, und sie konnte nie ganz den Verdacht loswerden, daß Mrs. Penniman ab und zu Nachrichten von ihm erhielte.

|262| 33. KAPITEL
    Nach und nach hatte sich Dr. Sloper aus dem Berufsleben zurückgezogen; er besuchte nur noch solche Patienten, an deren Symptomen er irgend etwas Außergewöhnliches bemerkte. Er reiste aufs neue nach Europa und blieb zwei Jahre; Catherine begleitete ihn, und dieses Mal war auch Mrs. Penniman mit dabei. Europa bot offensichtlich nur wenig Überraschendes für Mrs. Penniman, die häufig an besonders romantischen Stätten feststellte: »Wissen Sie, mir ist das alles gut bekannt.« Man sollte ergänzen, daß solche Bemerkungen für gewöhnlich weder an ihren Bruder gerichtet waren noch an ihre Nichte, vielmehr an Mitreisende, die gerade zur Hand waren oder gar an den Reiseleiter oder den Ziegenhirten im Vordergrund.
    Eines Tages, nach seiner Rückkehr aus Europa, sagte der Doktor seiner Tochter etwas, das sie aufschreckte – es schien aus so ferner Vergangenheit zu kommen.
    »Ich hätte gern, daß du mir etwas versprichst, ehe ich sterbe.«
    »Warum sprichst du vom Sterben?« fragte sie.
    »Weil ich achtundsechzig Jahre alt bin.«
    »Ich hoffe, du wirst noch lange leben«, sagte Catherine. »Das hoffe ich auch! Aber eines Tages werde ich mir eine schwere Erkältung holen, und dann wird es nicht mehr viel ausmachen, was irgend jemand hofft. Das wird die Art meines Todes sein, und wenn er eintritt, dann erinnere dich daran, daß ich es dir gesagt habe. Versprich |263| mir, nicht Morris Townsend zu heiraten, wenn ich nicht mehr bin.«
    Das war es, wie ich bereits sagte, was Catherine aufschreckte; doch dieses Aufschrecken war lautlos, und einige Augenblicke lang sagte sie nichts. »Warum sprichst du von ihm?« fragte sie schließlich.
    »Du richtest dich gegen alles, was ich sage. Ich spreche von ihm, weil er ein Gesprächsgegenstand ist wie jeder andere. Er ist zu sehen, wie jemand anders auch, und er schaut immer noch nach einer Frau aus – nachdem er eine gehabt hat und sie wieder losgeworden ist, ich weiß nicht wie. Er war unlängst in New York und im Haus deiner Kusine Marian; deine Tante Elizabeth hat ihn dort gesehen.«
    »Keine von ihnen hat mir davon erzählt«, sagte Catherine.
    »Das ist ihr Verdienst, nicht das deine. Er ist fett und kahl geworden und hat kein Vermögen erworben. Doch ich kann mich nicht darauf verlassen, daß diese Tatsachen allein ausreichen, dein Herz gegen ihn zu wappnen, und darum bitte ich dich um das Versprechen.«
    »Fett und kahl.« Diese Wörter erweckten ein fremdartiges Bild in Catherines Vorstellung, in der die Erinnerung an den schönsten Mann der Welt nie verblaßt war. »Ich glaube nicht, daß du mich verstehst«,

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