Washington Square
daß sie sich von ihm gelöst hat«, sagte der Doktor. »Es besteht nicht die geringste Wahrscheinlichkeit, daß sie urplötzlich der Vernunft zugänglich wurde, nachdem sie zwei Jahre lang so eigensinnig wie ein Maultier war. Weit wahrscheinlicher ist, daß er sich von ihr gelöst hat.«
»Um so mehr Grund für dich, gütig zu ihr zu sein.«
»Ich bin ja gütig zu ihr. Aber ich kann nicht den Gerührten spielen; ich kann wegen des glücklichsten Ereignisses, das ihr je geschehen ist, keine Tränen hervorpressen, nur um entgegenkommend zu erscheinen.«
»Du hast kein Mitgefühl«, sagte Mrs. Almond. »Das war nie deine Stärke. Du brauchst sie doch nur anzuschauen, um zu sehen, daß ihr armes kleines Herz schwer verletzt ist, zu Recht oder zu Unrecht und ob nun der Abbruch der Beziehung von ihr selbst ausging oder von ihm.«
»An Verletzungen herumzutasten oder gar Tränen darauf |256| fallen zu lassen bringt ihnen keine Besserung! Meine Sache ist es, dafür zu sorgen, daß sie keine weiteren Schläge abbekommt, und hierum werde ich mich sorgfältig kümmern. Aber deine Beschreibung Catherines kann ich überhaupt nicht nachvollziehen. Sie macht mir nicht im geringsten den Eindruck einer jungen Frau, die auf der Suche nach einem warmen Umschlag für ihre seelische Verfassung ist. Ich habe tatsächlich den Eindruck, daß ihr Befinden weit besser ist als zur Zeit, in der dieser Bursche sich hier herumtrieb. Sie fühlt sich völlig wohl und wirkt blühend; sie ißt und schläft, sie verschafft sich wie gewöhnlich Bewegung und überhäuft sich mit Putz. Stets strickt sie irgendeinen Beutel oder stickt an einem Taschentuch herum, und mir scheint, sie stellt diese Sachen nahezu ebenso schnell her wie immer. Sie hat nicht viel zu sagen; aber wann hat sie denn schon etwas zu sagen gehabt? Sie hat ihr Tänzchen gehabt, und jetzt sitzt sie da und ruht sich davon aus. Ich nehme an, alles in allem ist sie froh darüber.«
»Sie ist froh darüber, wie man froh ist, ein Bein loszuwerden, das zerschmettert wurde. Der Gemütszustand nach einer Amputation ist zweifellos dann verhältnismäßig gelöst.«
»Wenn dieses Bein ein bildlicher Ausdruck für den jungen Townsend ist, kann ich dir versichern, daß er niemals zerschmettert wurde. Zerschmettert? Der nicht. Er ist putzmunter und völlig unbeschadet; und darum bin ich unzufrieden.«
»Hättest du ihn gern umgebracht?« setzte Mrs. Almond hinzu.
»Ja, sehr gern. Ich halte es durchaus für möglich, daß es sich nur um eine Vortäuschung handelt.«
»Eine Vortäuschung?«
|257| »Eine Abmachung zwischen den beiden. ›Il fait le mort‹, wie man in Frankreich sagt; aber aus den Augenwinkeln heraus hält er Ausschau. Du kannst dich darauf verlassen, er hat nicht alle Brücken hinter sich abgebrochen; eine hat er stehengelassen, um über sie zurückzukommen. Wenn ich gestorben bin, wird er sich erneut auf den Weg begeben, und dann wird sie ihn heiraten.«
»Es ist aufschlußreich zu erfahren, daß du deine einzige Tochter bezichtigst, die abscheulichste Heuchlerin zu sein«, sagte Mrs. Almond.
»Ich sehe nicht ein, welchen Unterschied es ausmacht, daß sie meine einzige Tochter ist. Es ist doch besser, nur eine einzige zu beschuldigen als ein ganzes Dutzend. Aber ich beschuldige gar keine. An Catherine ist nicht die geringste Heuchelei, und ich bestreite, daß sie auch nur vorgibt, unglücklich zu sein.«
Die Annahme des Doktors, die Sache sei nur eine »Vortäuschung«, machte ihre Unterbrechungen und erneuten Aufschwünge durch; aber alles in allem könnte man sagen, je älter sie wurde, desto mehr nahm sie für ihn an Wahrscheinlichkeit zu, gleichzeitig mit seinem Eindruck von Catherines Wohlbefinden und blühendem Aussehen. Natürlich, wenn er innerhalb der ein oder zwei Jahre, die auf ihr großes Mißgeschick gefolgt waren, keine Gründe gefunden hatte, sie als ein an Liebeskummer leidendes Mädchen anzusehen, so fand er schon gleich keine zu der Zeit, als sie ihre Fassung vollständig wiedergewonnen hatte. Er war genötigt, die Tatsache anzuerkennen, daß die beiden jungen Leute, wenn sie darauf warteten, bis er ihnen aus dem Weg war, auf jeden Fall sehr geduldig warteten. Er hatte von Zeit zu Zeit gehört, Morris sei in New York; doch blieb er nie lange und nahm, nach der festen Überzeugung des Doktors, keine |258| Verbindung zu Catherine auf. Er war überzeugt, daß sie sich niemals trafen, und er hatte Grund anzunehmen, daß Morris ihr nie schrieb. Nach dem
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