Wasser für die Elefanten - Gruen, S: Wasser für die Elefanten
Heute Morgen ist er mir ja vielleicht eingefallen, aber das heißt
noch lange nicht, dass ich mich morgen oder auch nur im Laufe des Tages noch an
ihn erinnern werde.
Sie geht zum Fenster und zieht die Jalousie auf.
»Ich darf doch bitten.«
»Bitten worum?«
»Ich mag mich irren, aber ist dies hier nicht mein Zimmer?
Vielleicht möchte ich die Jalousie ja gar nicht offen haben. Ich kann Ihnen
sagen, ich bin es gründlich leid, dass jeder meint, er wüsste besser, was ich
will, als ich selbst.«
Rosemary starrt mich an. Dann lässt sie die Jalousie herunter,
marschiert aus dem Zimmer und lässt die Tür hinter sich zufallen. Vor
Überraschung sperre ich den Mund weit auf. Gleich darauf klopft es, bevor die
Tür einen Spalt breit geöffnet wird.
»Guten Morgen, Mr. Jankowski, darf ich hereinkommen?«
Verdammich, was hat sie vor?
»Ich sagte, darf ich hereinkommen?«, wiederholt sie.
»Natürlich«, stammle ich.
»Verbindlichsten Dank«, sagt sie, während sie den Raum betritt und sich
an das Fußende meines Bettes stellt. »Und, möchten Sie, dass ich die Jalousie
aufziehe, damit der Herrgott seine Sonne auf Sie scheinen lassen kann, oder
wollen Sie lieber den ganzen Tag lang im stockdunklen Zimmer sitzen?«
»Ach, ziehen Sie das Ding schon hoch. Und hören Sie mit diesem
Unsinn auf.«
»Das ist kein Unsinn, Mr. Jankowski«, sagt sie, geht zum Fenster und
zieht die Jalousie hoch. »Kein bisschen. Ich habe das früher nie so gesehen,
und ich muss mich bei Ihnen bedanken, dass Sie mir die Augen geöffnet haben.«
Macht sie sich über mich lustig? Ich kneife die Augen zusammen und
versuche in ihrem Gesicht zu lesen.
»Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie in Ihrem Zimmer frühstücken
möchten?«
Ich antworte nicht, weil ich immer noch nicht sicher bin, ob ich Lunte
rieche. Man sollte glauben, meine Vorliebe dafür stünde mittlerweile in meiner
Akte, aber jeden Morgen stellen sie mir diese dumme Frage. Natürlich würde ich
lieber im Speisesaal frühstücken. Wenn ich dabei im Bett bleibe, fühle ich mich
wie ein Invalide. Aber frühmorgens vor dem Frühstück werden die Windeln
gewechselt, und bei dem Geruch nach Fäkalien, der dann durch den Flur weht,
würgt es mich. Erst ein, zwei Stunden nachdem der letzte Pflegebedürftige
gesäubert, gefüttert und im Flur abgestellt wurde, kann man gefahrlos seine
Nase zur Tür rausstrecken.
»Nun, Mr. Jankowski – wenn Sie erwarten, dass man sich nach Ihren
Wünschen richtet, dann müssen Sie schon durchblicken lassen, wie Ihre Wünsche
aussehen.«
»Ja. Bitte. Ich möchte hier frühstücken«, sage ich.
»Gut, in Ordnung. Möchten Sie vor oder nach dem Frühstück duschen?«
»Wieso meinen Sie, ich müsste duschen?«, frage ich schwer gekränkt,
obwohl ich keineswegs sicher bin, dass eine Dusche nicht nötig wäre.
»Weil heute doch Besuchstag ist und Ihre Familie kommt«, antwortet
sie mit ihrem strahlenden Lächeln. »Und weil ich dachte, Sie möchten sich für
Ihren Ausflug heute Nachmittag frisch machen.«
Meinen Ausflug? Ach ja, der Zirkus! Ich muss zugeben, zwei Tage
hintereinander mit der Aussicht auf einen Zirkusbesuch aufzuwachen, war
wirklich nett.
»Ich glaube, dann möchte ich vor dem Frühstück duschen, wenn es
Ihnen nichts ausmacht«, erwidere ich freundlich.
Zu den größten Demütigungen des Alters gehört es, dass andere
einem unbedingt bei Dingen wie dem Baden oder dem Gang auf die Toilette helfen
wollen.
Eigentlich kann ich beides alleine, aber sie haben solche Angst, ich
könnte fallen und mir wieder die Hüfte brechen, dass ich ein Kindermädchen
bekomme, ob ich will oder nicht. Ich bestehe grundsätzlich darauf, alleine auf
die Toilette zu gehen, und trotzdem ist immer jemand dabei, nur für den Fall,
und aus irgendeinem Grund ist es immer eine Frau. Ich sage ihr dann, sie soll
sich umdrehen, während ich meine Hose herunterlasse und mich setze, und dann
schicke ich sie hinaus, bis ich fertig bin.
Das Baden ist noch peinlicher, weil ich mich vor einer Schwester bis
aufs Adamskostüm ausziehen muss. Nun ja, manches ändert sich nie, und obwohl
ich über neunzig bin, reckt zuweilen mein kleiner Freund sein Köpfchen. Ich
kann nichts dagegen machen. Sie tun immer so, als würden sie nichts merken. Das
haben sie wahrscheinlich so gelernt, aber dieses geflissentliche Übersehen ist
fast noch schlimmer, als wenn sie darauf reagieren würden. Es bedeutet, dass
sie in mir nicht mehr sehen als einen harmlosen alten Mann mit einem
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