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Wasser für die Elefanten - Gruen, S: Wasser für die Elefanten

Wasser für die Elefanten - Gruen, S: Wasser für die Elefanten

Titel: Wasser für die Elefanten - Gruen, S: Wasser für die Elefanten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Gruen
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muss mir
etwas einfallen lassen, damit ich es nicht vergesse. Ich habe keine Schnur,
aber ich könnte mir wohl ein Stück Serviette um den Finger wickeln. In meiner
Jugend haben das die Leute in den Filmen ständig gemacht. Sich Schnur um den
Finger gewickelt, um sich an etwas zu erinnern, meine ich.
    Ich greife nach der Serviette, und dabei fällt mein Blick auf meine
Hände. Sie sind knorrig und krumm, mit dünner Haut und – genau wie mein
eingefallenes Gesicht – voller Leberflecke.
    Mein Gesicht. Ich schiebe das Porridge zur Seite und klappe den Frisierspiegel
auf. Mittlerweile sollte ich es besser wissen, aber irgendwie erwarte ich immer
noch, mich selbst zu erblicken. Stattdessen sehe ich eine dieser
Schrumpfapfelpuppen, verdorrt und fleckenübersät, mit schlaffem Hals und
Augenringen und großen Schlappohren. Auf dem Schädel sprießen zwischen den
Altersflecken einige nutzlose weiße Haarsträhnen.
    Ich will die Haare mit der Hand glattstreichen und erstarre beim
Anblick meiner alten Hand auf meinem alten Kopf. Ich beuge mich zum Spiegel und
öffne die Augen ganz weit, um hinter die schlaffe Haut zu sehen.
    Es nutzt nichts. Selbst wenn ich mir direkt in die blassblauen Augen
sehe, kann ich mich selbst nicht mehr finden. Wann habe ich aufgehört, ich zu
sein?
    Mir ist zu übel, als dass ich essen könnte. Ich stülpe den braunen
Deckel wieder über das Porridge und ertaste mit einigen Schwierigkeiten das
Bedienfeld für mein Bett. Dann drücke ich auf den Knopf, der das Kopfteil
herunterfährt, wodurch der Tisch wie ein Geier über mir schwebt. Moment mal,
hier ist auch ein Knopf, um das Bett abzusenken. Gut. Jetzt kann ich mich auf
die Seite rollen, ohne den verdammten Tisch anzustoßen und das Porridge zu
verschütten. Das will ich nicht schon wieder machen, nachher halten sie das für
einen Wutausbruch und rufen Dr. Rashid.
    Sobald mein Bett flach und möglichst weit unten ist, rolle ich mich
auf die Seite und starre durch die Jalousie in den blauen Himmel. Kurz darauf
habe ich so etwas wie Frieden gefunden.
    Der Himmel, der Himmel – er bleibt immer gleich.

Neun
    In Tagträume versunken starre ich durch die offene Tür in
den Himmel, als das durchdringende Kreischen der Bremsen einsetzt und alles
einen Satz nach vorne macht. Ich stütze mich auf dem rauen Boden ab, und
nachdem ich das Gleichgewicht wiedererlangt habe, fahre ich mir mit den Händen
durchs Haar und binde mir die Schuhe zu. Offenbar sind wir endlich in Joliet
angekommen.
    Die grobe Holztür neben mir öffnet sich quietschend, und Kinko kommt
heraus. Mit Queenie zu seinen Füßen lehnt er sich gegen den Rahmen der Wagentür
und starrt angestrengt auf die vorüberziehende Landschaft. Er hat mich seit dem
gestrigen Vorfall keines Blickes gewürdigt, und ehrlich gesagt fällt es mir
auch schwer, ihn anzusehen, denn einerseits kann ich seine Demütigung nur zu
gut nachempfinden, andererseits kann ich ein Lachen kaum unterdrücken. Als der
Zug schließlich mit einem Ruck und einem Seufzer stehen bleibt, steigen Kinko
und Queenie mit dem üblichen Händeklatschen und dem Sprung auf den Arm aus.
    Alles ist merkwürdig still. Obwohl die Fliegende Vorhut eine gute
halbe Stunde vor uns eingetroffen ist, stehen die Männer schweigend herum. Kein
geordnetes Chaos. Kein Geklapper von Rampen, kein Fluchen, niemand wirft
Seilrollen, es werden auch keine Gespanne angeschirrt. Nur Hunderte von
zerzausten Männern, die staunend die aufgeschlagenen Zelte eines anderen Zirkus
begaffen.
    Es sieht aus wie eine Geisterstadt. Das Chapiteau ist da, aber keine
Menschenmenge. Der Küchenbau, aber keine Fahne. Wagen und Garderobenzelte
stehen am anderen Ende des Platzes, aber die zurückgebliebenen Menschen wandern
ziellos umher oder sitzen träge im Schatten.
    Gerade, als ich vom Pferdewagen springe, fährt ein schwarzbeiger
Plymouth auf den Parkplatz. Zwei Männer in Anzügen steigen aus, beide mit
Aktentasche und Homburg, und begutachten die Lage.
    Onkel Al eilt, sans entourage , zu ihnen;
er trägt seinen Zylinder und schwingt den Stock mit dem Silberknauf. Mit
heiter-freundlicher Miene schüttelt er beiden Männern die Hand. Beim Sprechen
dreht er sich um und deutet mit ausholender Geste auf das Gelände. Die
Geschäftsleute nicken, sie verschränken die Arme und schätzen und rechnen.
    Hinter mir knirscht der Schotter, und plötzlich steht August neben
mir. »So ist er, unser Al«, sagt er. »Er riecht die Stadtverwaltung aus einem
Kilometer Entfernung.

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