Wasser zu Wein
das einzige gesellige Ritual am Tag. Dennoch verschwendete er schon lange keinen Gedanken mehr an die Alternative: an ein Leben in der Großstadt. Jeden Tag im Büro zwischen intriganten Kolleginnen und eitlen Kollegen? dachte er voller Widerwillen. Jeden Abend in die Kneipe? Inmitten der blöde gackernden Schickeria aus Börsianern, Bankern, Juristen und ›Kreativen‹? Er schüttelte sich. »Und jedes Wochenende ein tiefes, schwarzes Loch? – Nie wieder!« murmelte er und schob mit der Schuhspitze den einen der beiden Freßnäpfe wieder an seinen Platz.
Statt dessen bestellte er seinen Garten, futterte fremder Leute Katzen, schrieb mäßig erfolgreiche Bücher, führte Selbstgespräche und fuhr Fahrrad. »Heute Depression gehabt«, würde ein regelmäßig wiederkehrender Eintrag in seinem Tagebuch lauten, wenn er denn eines führte, was er aus guten Gründen nicht tat. »Danach Fahrrad gefahren.« Wonach es ihm meistens besser ging. Er gab sich einen Ruck, ging wieder nach oben und zog die Fahrradklamotten an. Er wußte, daß man ihn im Dorf milde belächelte, wenn er zwar auch am Sonntag seine Alltagsjeans trug, aber ausgerechnet zum Fahrradfahren die Kleidung wechselte. Das ist eben mein Gottesdienst, dachte er. Erst wenn er sich auch noch einen dieser windschnittigen Helme aufsetzte, unter denen sich die Städter so dynamisch fühlten, würden seine Nachbarn ihn endgültig für verloren erklären. Bis dahin war man tolerant.
Er fuhr bei jedem Wetter und zu jeder Tageszeit: Wenn der Regen mit feinen Nadelspitzen in seine Haut drang. Durch knirschenden Schnee. Bei Westwind. Im rötlichen Schein der aufgehenden Sonne. Und spät an Sommerabenden, wenn sich die Eulen von ihren Schlafbäumen schwangen und mit leisem Flug auf Beutezug gingen. Auf dem Fahrrad ordnete sich sein Leben, wurden die Gedanken klar, hatte er Eingebungen, fanden sich Lösungen wie von selbst ein: vor allem, wenn es bergaufging.
Bremer schloß die Haustür, holte sein Rennrad aus dem Schuppen und schob es zum Gartentor hinaus. Marianne fegte die Gass’, sogar morgens schon in kurzen, knappen Hosen und im weit ausgeschnittenen Spitzenhemdchen. Irgendwie war ihr nie zu kalt. Er sah sie gern so.
»Grüß mir die Heimat!« rief sie ihm zu.
»Jeden Meter!« Paul grinste zurück und nickte zu Erwin hinüber, der, wie jeden Morgen, mit den ersten Zigaretten des Tages gegen reißende Hustenanfälle ankämpfte und gerade noch ein mattes »Gude« zuwege brachte. Dann stieg er in die Pedale.
Seine Laune hob sich schon am Ortsausgang, sobald er mit angehaltenem Atem durch die Ammoniakschwaden aus dem Schweineknast von Bauer Knöss gefahren war. Was hielt ihn in Klein-Roda? Gute Frage. Vielleicht die Katzen. Vielleicht die Rosen in seinem Garten, deren Duft sich im Sommer auf unnachahmliche Weise mit den Gerüchen des Landlebens vermischte, mit dem Geruch von Pferdeäpfeln und Kuhfladen auf heißem Asphalt, mit dem Duft von Johannisbeertorte, Mariannes Spezialität, mit dem Rauch von Erwins Zigaretten. Vielleicht, wahrscheinlich die Umgebung, die sanften Hügel der Rhön mit ihren bunten Hecken und Gehölzen, mit ihren mäandernden Bächen, die Windmühlen weit hinten am Horizont.
Paul spurtete den Feldweg hinunter, am Froschteich vorbei, aus dem bei günstigem Windstand im Sommer das vielstimmige Gequake und Gequarre bis zu seinem Haus drang. Er schaute zum Horizont. Nur langsam lichtete sich der verhangene Himmel. Vom Gehölz vor der kleinen Anhöhe rechter Hand wehte der Duft von blühenden Bäumen und Sträuchern herüber, von Schwarzdorn und Wildkirschen. Als er auf die Landstraße einbog, stieg eine Lerche vor ihm auf. Hinter Groß-Roda jagten zwei Krähen eine viel größere, beleidigt schreiende Gabelweihe. In Waldburg bremste er gerade noch rechtzeitig vor einer riesigen, goldbraunen Kröte, die sich hinkend über die Straße schleppte. Und nach der schönen, steilen, langgezogenen Anfahrt Richtung Rottbergen zog das Glücksgefühl auf, dessentwegen es ihn täglich aufs Rad trieb. Irgendwie war hier Heimat, hier, auf den Anhöhen und in den Tälern der hessischen Rhön. »Guck nicht so blöd«, rief er dem Bussard zu, der auf einem Zaunpfahl an der Straße hockte und ihm mit starrem Blick entgegensah. Dann duckte er sich über den Lenker und ließ sich die steile Abfahrt hinunterfallen. Frieden. Wenigstens für heute.
Als er nach einer Stunde ins Dorf zurückgeradelt kam, stand der Lieferwagen von Jochen auf der Dorfstraße, fast direkt
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