Wasser zu Wein
ihre auf den Rücken geschnallten Gefäße in die großen Holzbütten auf den Lesewagen entleerten. Er spürte den Geschmack von Weck, Worscht und Bubbes auf der Zunge, die Mittagsmahlzeit, die Evchen während der Lese pünktlich um zwölf auf den Berg schleppte. Er erinnerte sich an klamme, eiskalte Hände, mit denen er hoch auf dem Wagen die gelesenen Trauben nachsortierte: die einwandfreien links, die weniger guten in den großen Bottich rechts. Er hörte all die anderen Winzer geräuschvoll ihre Traktoren anwerfen und mit den vollen Wagen zu Tal fahren. Und er sah den alten Wallenstein vor sich, wie er mit feierlicher Miene die Öchslegrade der einzelnen Lesefuhren verkündete. »Rosenpfad« war seine Spitzenlage gewesen.
Bremer griff zum Telefon und wählte die Nummer, die ihm sein Gedächtnis nannte, ohne daß er groß nachdenken mußte. Die Stimme, die sich nach mehrmaligem Läuten meldete, war ihm vertraut, auch wenn sie brüchig klang, ein bißchen dünn, ein bißchen langsam.
»Was machst du für einen Quatsch, du alter Dickkopf?« fragte Paul, dem die Rührung fast die eigene Stimme verschlagen hätte.
Der alte Mann lachte. »Immerhin rufst du mich endlich mal wieder an!«
Bremer spürte, wie sein Gesicht heiß wurde vor Scham. Er hatte sich viel zu lange nicht mehr um seinen Großonkel Frieder Wallenstein gekümmert. Hatte immer mal angerufen, das schon. Und geschrieben, zu Weihnachten oder zum neuen Jahr. Wie man das eben so machte. Aber er war, seit er aufs Land gezogen war, nicht mehr nach Wingarten gefahren. Man hatte sich aus den Augen verloren.
»Es tut mir leid«, sagte er.
Der alte Mann lachte wieder. »Das ist Zeitverschwendung.« Listig fügte er hinzu: »Aber wo du schon anrufst: Wann kommst du?«
»Ist das Haus noch nicht über dir zusammengefallen?« fragte Paul. »Was macht Evchen? Lebt Zigeuner noch?«
Das alte, verwinkelte Wallensteinsche Haus in Wingarten hatte knarzende Dielen und knackende Balken gehabt, zwei große Räume im Erdgeschoß und viele enge Kammern im ersten Stock. Es roch nach Bohnerwachs, nach Staub und nach Wein und im Frühjahr nach den Blüten des Pflaumenbaums vor dem Zimmer, in dem Paul sich eingerichtet hatte. Es gab eine Remise hinter dem Haus, in der, wenn die Sonne schien, das alte Gebälk ächzte und stöhnte; in der eine Kutsche aus dem vorigen Jahrhundert stand und eine ausrangierte Kelter. Dort duftete es nach Heu und Sägemehl. Das war Wallensteins Werkstatt, in der er sägte, hobelte und schnitzte.
Mit Zigeuner II, dem schwarzweißen Mischlingsrüden, den Wallenstein nach seinem Vorgänger getauft hatte, war Paul durchs Haus getobt, durch die Remise, durch den Garten, in die Weinberge hoch und wieder runter zum Rhein. Viele Sommer und viele Winter. Damals, nachdem seine Mutter gestorben war und sein Vater ihn nicht hatte bei sich behalten wollen. Er merkte, wie ihm ein saurer Geschmack in den Mund stieg. Es tat immer noch weh, nach all den Jahren. Er hatte es vergessen wollen. Und den alten Mann gleich mit dazu. Was ungerecht war – denn ihm verdankte er, daß die schlimmsten Wunden heilen konnten.
»Was macht dein Keller?« Unter dem alten Haus hatte sich ein dunkler, feuchter und immer etwas säuerlich riechender Keller erstreckt, ein Ort der Wunder, in dem es aus großen Fässern geheimnisvoll blubberte und quakte und in dessen spinnwebenverhangenen Nischen matt schimmernde Flaschen lagerten.
»Der vorletzte Jahrgang war hervorragend.« Wallensteins Stimme klang plötzlich enthusiastisch. »Keine großen Mengen. Aber was für eine Substanz! Der letzte – na ja. Wenn uns die Trockenschäden an den Steilhängen erspart geblieben wären …« Das letzte Jahr hatte mies angefangen und, mit zwei Sonnenmonaten, grandios geendet. Für die normalerweise begünstigten Steilhanglagen konnte das gefährlich werden.
Bremer schloß die Augen. Während der alte Mann erzählte, schossen ihm die Bilder durch den Kopf. Wallenstein im Februar im Wingert, Temperatur: schneidend kalt, wie er leicht vornübergebeugt am steilen Hang stand und mit rotgefrorenen, knotigen Fingern seine Rebstöcke auf einen Trieb zurückschnitt, den er dann im runden Bogen an den Draht band, der zwischen den Reihen gespannt war. Wallenstein beim Unkrautjäten und Bodenlockern im Sommer. Wallenstein in den Tagen vor der Lese, in denen er unruhig durch die Weinberge wanderte, immer wieder nach dem Wetter guckte und mit dem Refraktometer die Öchslegrade seiner Trauben ermittelte. Und
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