Wasser zu Wein
was er heute sagt.«
Mit diesem Satz hatten bei ihrer Kellerbegehung beide das Glas gehoben, der alte Mann und der Junge, einander gegenüber, die linke Hand auf den Rücken gelegt, das Glas in der rechten Hand, und es dann gegen das Licht gehalten, das die blaßgoldene Farbe des Rieslings schimmern ließ. Mit dem abwesenden Blick, der Konzentration verriet, hielten beide ihre Nasen ins Glas, schwenkten den Wein, rochen wieder daran und setzten dann, immer zugleich, das Glas an: erst Schlürfen, dann Kauen und schließlich Schlucken.
Es war wie ein Tanz, die tägliche Weinprobe mit Großonkel Wallenstein, ein Menuett, eine strenge Zeremonie. So hatte Paul gelernt, wie ein Wein sich langsam verändert, wenn er von Traubenmost zu Trinkreife übergeht. Im Weinberg und im Keller hatte er begriffen, was ein großer und was ein schlechter Jahrgang ist. Was eine gute von einer nicht ganz so guten Lage unterscheidet. Und wie ein großer alter Riesling schmecken kann, wenn er nach zwanzig Jahren auch den letzten Rest aggressiver Säure abgebaut hat und ein reiches Bukett mit einem sanften Botrytiston aus dem Glas hervorsteigt, jener Edelfäule, für die der Rheingauer Riesling weltberühmt ist.
Ein Anfall von tiefer Zuneigung zu dem alten Mann überkam Paul – zugleich schämte er sich, daß er ihn so lange vernachlässigt hatte.
»Wollen wir wieder in den Keller gehen«, fragte er leise, »und gucken, was er sagt?«
Frieder Wallenstein klang ebenso gerührt. »Komm, Paul«, sagte er mit unmerklich zitternder Stimme, »ich brauch dich.«
Einige Stunden später, genauer gesagt um Punkt 17 Uhr, beschloß Bremer, eine seiner besten Flaschen auf den alten Herrn zu öffnen – »mal gucken, was er sagt!« murmelte er, als er erst den Kapselschneider und dann den Korkenzieher ansetzte. Mit leicht geneigtem Kopf stand er schließlich vor der Haustür, hielt das Glas in der Hand, wie er es gelernt hatte – mit Daumen und Zeigefinger am Boden –, steckte seine Nase hinein, schlürfte, kaute, ließ den Wein die Kehle herunterrinnen und sagte nach dem zweiten Schluck: »Halt durch, alter Knabe. Ich komme.«
7
Wingarten am Rhein
Sebastian Klar bewunderte seine Frau. Er bewunderte sie unendlich. Andere Frauen hätten weniger Haltung bewiesen. Weniger innere Kraft. Weniger Durchhaltevermögen. Trotzdem machte er sich Sorgen um sie – jeden Tag mehr, wenn er ehrlich war. Er räumte die Weinflaschen in die Kühlschubladen unter dem Tresen, an dem sie stand und traumverloren in die Luft guckte, die Zigarette in der rechten Hand, vor sich eine Tasse Kaffee und ein Glas Cognac. Es war noch nicht einmal vier Uhr.
Hatte sie seinen zweifelnden Blick bemerkt? Plötzlich schüttelte sie sich, lächelte verlegen und goß den Cognac ins Spülbecken. Erleichtert lächelte auch er.
Er brauchte sie. Ohne Elisabeth war alles nichts. Und ohne die Chefin der »Traube« konnte man das Geschäft vergessen. Sebastian lächelte wieder, wenn auch ein bißchen dünner. Einer der Kellner hatte ihn einmal einem Gast gegenüber den »Mann von der Chefin« genannt. Das stimmte natürlich nicht – jedenfalls nicht im juristischen Sinn. Andererseits: Die Seele des Hauses war sie. Immer gewesen. Immer noch.
Er brauchte sie. Und er brauchte sie nüchtern. Guter Laune, wenn es ging. Ohne Tränen, wenn das möglich war. Gerade jetzt, wo das Galadiner ins Haus stand. Und all die anderen unzähligen Weinproben und Musikabende der nächsten Wochen. Die »Traube« in Wingarten hatte einen Ruf zu verlieren: den Ruf, eine tadellose Küche mit großartigen Weinen und einem exzellenten Service zu verbinden. Und er wollte diesen Ruf nicht verlieren.
Er liebte Elisabeth – Sebastian Klar war plötzlich so gerührt, daß ihm die Kehle eng wurde. Er liebte sie wirklich. Er zapfte das frische Bierfaß an und ließ den ersten Schaum in die Spüle laufen. Andererseits – auch die »Traube« lag ihm am Herzen. Mein Lebenswerk, dachte er plötzlich. Und jetzt wären ihm wirklich fast die Tränen gekommen.
Elisabeth war hinter den Tresen gegangen und polierte mit einem trockenen Tuch Abtropfgitter und Hähne. Sie hatte ihre langen dunklen Locken hinter die Ohren gekämmt und hinten zusammengebunden. Sie sah tüchtig und umsichtig aus. Sie ist tüchtig und umsichtig, korrigierte er sich. Warum nur war er so nervös? Was konnte schon schiefgehen?
Nichts. Besser gesagt: nicht viel. Nur das, was vor einigen Wochen beim Essen nach einer bedeutenden Weinprobe geschehen
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