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Wasser zu Wein

Wasser zu Wein

Titel: Wasser zu Wein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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Wallenstein im Keller, in seinem Weinkeller, mit dem Meßzylinder in der einen und der Senkwaage in der anderen Hand, beim Bestimmen des Mostgewichts des jungen Weins. »Die Arbeit im Wingert ist Gottesdienst«, pflegte der Winzer zu sagen. Und: »Wer säuft, sündigt. Wer trinkt, betet.«
    Frieder Wallenstein mußte mittlerweile an die Achtzig sein, durchfuhr es Paul, als er merkte, wie der Mann, mit dem er telefonierte, langsamer wurde und nach Worten suchte.
    »Geht es dir gut?« Plötzlich war er besorgt.
    Der alte Herr hüstelte. »Wie man’s nimmt. Die alten Knochen werden nicht jünger. Und« – fügte er nach einer kleinen Pause hinzu – »der Wein schmeckt auch nicht mehr wie früher.«
    »Das ist bei Gott kein gutes Zeichen«, sagte Paul.
    »Bei Gott nicht.« Wallenstein lachte auf.
    Von seinem Großonkel hatte Paul Bremer das Weintrinken gelernt. Im Alter von vierzehn Jahren – »gerade richtig«, hatte Onkel Frieder damals gesagt, »um mit den guten Dingen des Lebens zu beginnen«. Seither hatte sich jeden Tag in den dunklen Monaten des Jahres – und nicht sehr viel seltener zu anderen Jahreszeiten – um fünf Uhr nachmittags das gleiche Ritual abgespielt.
    »Mal gucken, was er heute sagt«, hatte Wallenstein verkündet, wenn die Uhr im Wohnzimmer fünf geschlagen hatte, und Paul mit einem Kopfnicken zur Vitrine hin daran erinnert, daß es zu seinen Aufgaben zählte, zwei Gläser aus dem Schrank zu holen, noch einmal mit dem Geschirrtuch abzuwischen, auf ein Tablett zu stellen und mitzunehmen. Wallenstein griff sich den Kellerschlüssel, die Schachtel mit den Streichhölzern und, wenn nötig, frische Kerzen. Dann ging er voraus in den Flur, an der Küche vorbei bis zur graugestrichenen, grob gezimmerten Kellertür, dann eine steile, schmale Treppe hinunter zum Keller, dem alten Kreuzgewölbe, Winzers Keller seit Olims Zeiten.
    Der Alte atmete jedesmal tief ein, wenn er auch die schwere Tür unten mit dem großen Schlüssel aufgeschlossen und weit aufgesperrt hatte. »Riechst du das, Paul?« fragte er – jedesmal. Es roch nach Wein, nach Wein in den Wänden, nach Wein im kiesbestreuten Boden, nach dem Wein in den Fässern, es war Wein in der Luft. Paul hatte diesen scharfen, sauren Geruch bald lieben gelernt – es mußte so riechen in einem ordentlichen Weinkeller, zumal bei einem Winzer, der den ersten Schluck aus dem Faß den Göttern opferte. Er hatte mal geschätzt, wieviele Liter in fünf Jahrzehnten wohl zusammengekommen waren, wenn man diesen täglichen Tribut zusammenrechnete. Es war eine solche Menge, daß es die Götter einfach gnädig stimmen mußte.
    Wallenstein zündete als erstes die Kerzen an, die in zwei Kandelabern am Kopfende eines langen Ganges standen, in dem die behäbigen Halbstückfässer hockten. Dann schritt er die Parade ab: streichelte das Faß mit dem trockenen Riesling, hob die Brille von der Nase, um zu gucken, was er über den Reifeprozeß der Spätlese mit Kreide auf der Vorderseite des Fasses notiert hatte, und murmelte dem kleinen Fäßchen Beerenauslese Koseworte zu. Paul hatte das zuerst verlegen gemacht, dann fand er es ein bißchen komisch. Später hatte er das Ritual genossen.
    Nach der Begrüßung seiner Lieblingsfässer hob Wallenstein den dünnen roten Schlauch vom Haken an der Wand über dem Wasserhahn und zog den Gärspund oben aus dem Faß mit dem Hauswein. »Immer von unten nach oben trinken, Paul!« hatte er dem Jungen eingeschärft. »Wer den besseren vor dem einfachen Wein trinkt, weiß den nicht mehr zu schätzen. Und das wäre schade: Auch der einfache Wein hat seine Zeit – und seine Gelegenheit.«
    Dann führte er den Schlauch in das Spundloch ein, saugte einmal kurz und kräftig an und preßte den Schlauch mit zwei Fingern zu. Dieser, der erste Schluck, den der Winzer durch den Mund wandern ließ, von der rechten zur linken Wange, und mit gespitzten Lippen kräftig durchkaute, landete auf dem Boden vor dem Faß. Dann winkte er mit der Hand, in der er den Schlauch hielt, Paul heran, der ihm die zwei Gläser hinhielt. Wallenstein ließ drei Fingerbreit Wein hineinlaufen – in seines, in Pauls Glas nur zwei.
    »Vielleicht schmeckt mir der Wein ja in deiner Gegenwart wieder«, sagte die Stimme am Telefon.
    Bremer lachte. »Überredet.« Und plötzlich spürte er, daß er sich nach dem alten Wallenstein sehnte. Und nach dem duftenden, kühlen Weinkeller. Und daß er endlich wieder den dummen, blöden, wunderbaren Spruch hören wollte: »Mal gucken,

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