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Wasser zu Wein

Wasser zu Wein

Titel: Wasser zu Wein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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mußte, daß alle anderen Sensorien sich ausgeschaltet hatten, damit das Hirn für diese eine, diese große Aufgabe genug Kapazität bereitstellen konnte. Jedenfalls hatte keiner ihrer Sinne sie gewarnt. Und keiner ihrer Reflexe war stark genug. Bevor sie abbremsen oder ausweichen konnte, landete ihr rechter Fuß mitten in einer weichen Masse und rutschte nach hinten weg. Karen ruderte verzweifelt mit den Armen und versuchte noch, ihr Gewicht vom rechten auf den linken Fuß zu verlagern. Aber der rechte Fuß rutschte weiter und knickte über dem Knöchel ein. Sie landete mit einem dumpfen Schlag auf der Seite. Scheiße, dachte sie, während der Sturz ihr den Atem verschlug.
    Einen Moment lang war sie wie gelähmt. Sie sah sich auf der Intensivstation liegen. Aus einer Schnabeltasse trinken. Im Rollstuhl sitzen. Als sie sich endlich wieder bewegen konnte und aufstehen wollte, merkte sie, daß sich der rechte Fuß nicht belasten ließ. Sie schrie leise auf. Der Schmerz über dem Knöchel pochte nur und war zu ertragen. Aber sie konnte nicht auftreten. Sie hockte sich aufs linke Bein, stützte sich mit beiden Händen ab und kam schließlich mühselig hoch. Schwankend stand sie auf einem Bein und fühlte eine große Hilflosigkeit in sich aufsteigen. Sie hüpfte die paar Meter zurück zur Bank der Helene Mordkowitsch und hielt sich mit der Hand an der Lehne fest. Nix Rollstuhl, dachte sie. Gips.
    Die braune Pampe an ihrem Schuh stank widerlich. Der Grüneburgpark war verwaist, der graue Himmel hatte sich noch ein bißchen tiefer gesenkt, nur von Ferne klangen die Geräusche der Straße und Hundegebell hinüber. Karen fühlte sich unendlich allein auf der Welt.
    Der Jogger mit dem dunkelgrünen Stirnband war ihr schon dreimal entgegengekommen. Jetzt kam er das vierte Mal auf sie zu. Seltsam, dachte sie hinterher, was einem in solchen Momenten alles auffällt. Sie nahm die Schweißspur wahr, die trotz Stirnband auf der linken Wange des Mannes glänzte. Und den kleinen, glitzernden Stein, den er im Ohrläppchen trug.
    »Ich habe Sie fallen gesehen«, sagte der Mann. »Ich könnte die verdammten Köter alle abknallen!« Er steckte ein kleines, silbernes Gerät, das er in der rechten Hand gehalten hatte, in die linke Brusttasche. Karen fühlte, wie ein hysterisches Lachen in ihr hochstieg. Sie hatte sich vorhin schon gefragt, warum der Mann Selbstgespräche zu führen schien – und sich dabei die Hand vor den Mund hielt. Er benutzte beim Joggen ein Diktiergerät. Meisterhaft.
    Er sah sie stirnrunzelnd an. »Ist Ihnen was passiert?«
    Karen wollte schon den Kopf schütteln – gewohnheitsmäßig, sozusagen. Ihr passierte schließlich nie etwas. Statt dessen nickte sie, mit einem überwältigenden Gefühl der Erleichterung, das ihr die Tränen in die Augen trieb. Und dann kicherte sie los.
    Der Mann nickte, als ob er es gewohnt sei, daß sich große rothaarige Frauen, die beim Joggen in Hundescheiße ausgerutscht waren, halb kaputtlachten, griff mit der linken Hand in die rechte Brusttasche, zog ein Funktelefon heraus und schilderte der Notrufzentrale in kurzen, präzisen Sätzen, was geschehen war. Karen lachte immer noch – unter Tränen. Sie hatte einen echten Profi erwischt. Aber leider keinen, der dem soeben entworfenen Steckbrief ihres Traummanns entsprach. Der Mann mochte Männer.
    Er half ihr, den versauten Schuh vom rechten Fuß zu ziehen. Nur einmal, als er nicht vorsichtig genug war, atmete sie scharf ein. Danach bestand sie darauf, daß er den Schuh in den Abfalleimer neben der Bank steckte. »Aber es ist doch …«, sagte der Mann. Richtig, sie trug die luftgepolsterten Laufschuhe von Reebok. Die waren teuer gewesen. Man mußte schließlich an seine Gelenke denken.
    »Aber man kann doch …« Der Mann trug die ebenso teuren Adidas.
    »Nein«, sagte Karen bestimmt, hielt sich mit der einen Hand an seiner Schulter fest und wischte sich mit der anderen die Tränen aus den Augen. Man konnte nicht. Sie wollte den Schuh nie wieder sehen.
    Als sie auf den Krankenwagen warteten, dachte Karen an den Aktenkoffer, der in ihrem Auto stand. An die Anklageschrift gegen den Autoschieberring, die sie morgen skizzieren wollte. Und spürte ein ungewohntes Gefühl der Erleichterung in sich aufsteigen. Sie würde das erste Mal in ihrer Berufskarriere krankheitsbedingt ausfallen. Das empfand sie plötzlich als einen wunderbaren Wink des Schicksals.
    Nur ins »Trapez« würde sie heute abend nicht gehen können. Das war das einzige,

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