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Wasser zu Wein

Wasser zu Wein

Titel: Wasser zu Wein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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Statur ist auch wieder nicht nötig.
    Ächzend bückte sie sich und holte die Sporttasche aus dem Wandschrank. »Ein Aufbäumen gegen das Unvermeidliche«, sagte ihre Freundin Marion dazu. Aber sie mußte etwas tun. Das war ihr klar geworden, seit sie vor einer Woche gemeinsam einkaufen gewesen waren.
    »Du brauchst offenbar keine Dessous, sondern Stütze«, hatte Marion gesagt, als Karen das ansteuerte, was ihre Freundin süffisant ein Miederwarenfachgeschäft nannte. Der Bedarf nach stützenden Maßnahmen war größer, als Karen angenommen hatte. Jedenfalls würde sie lange nicht den Blick vergessen, mit dem eine ältere, hagere Blondine im Geschäft sie taxiert hatte, als sie nach einem BH verlangte und verschämt die Größe sagte, an die sie sich irgendwie zu erinnern glaubte.
    Die »hervorragende Fachkraft« – hinterhältiger Kommentar Marions – legte ihr wortlos zwei Nummern größere Ware vor, schickte sie in die Umkleidekabine und sagte: »Und dann sehen wir weiter.«
    Die Frau hatte recht gehabt. Karen Stark fühlte, wie ihr das Strahlen abhanden gekommen war, als sie an der Kasse bezahlte. »Ich bin zu dick, Marion«, klagte sie auf dem Weg vom Roßmarkt zur Schillerstraße.
    »Du bist nicht zu übersehen.« Marion kannte das Lamento schon.
    »XXL. Vollschlank.«
    »Hmmmh«, machte Marion. »Botticelli hätte seine Freude an dir.«
    »Aus dem Leim gegangen.« Karen war immer noch nicht nach Scherzen zumute gewesen. Marion hatte sie liebevoll angesehen und »du spinnst« gesagt.
    Karen hatte sich ein intensives Trainingsprogramm verordnet – Laufen, Radfahren. Und wieder öfter zum Krafttraining gehen. Sie hatte sich viel zu lange gehenlassen, den ganzen Winter über. Jetzt mußte der Speck weg.
    Mit Marion konnte man über dieses Thema im Grunde nicht reden. Marion würde auch noch als Greisin wie eine Elfe aussehen. »Ich kann nichts dafür«, pflegte sie dazu zu sagen. »Es sind die Gene. Und – möchtest du im Ernst wie ich aussehen?« Natürlich nicht.
    Marion, die kleine, zierliche Aschblonde mit der Stupsnase und den Veilchenaugen, wirkte zart und hilflos und weckte alle Beschützerinstinkte. Das konnte Karen nicht gebrauchen. Auch wenn es im Falle ihrer Freundin natürlich die reine Irreführung war. Marion bezahlte ihre Donna-Karan-Kostüme selbst und war eine erfolgreiche Börsenmaklerin. »Ich zocke gerne«, pflegte sie über ihren Beruf zu sagen und so zu tun, als ob das völlig normal wäre.
    Die Freundschaft zu ihr hatte nur einen Nachteil, dachte Karen manchmal: Sie fühlte sich an schlechten Tagen in Marions Anwesenheit wie der schwerere Part von Pat und Patachon. »Besser dick als doof«, murmelte sie und holte den dunkelroten Trainingsanzug und die Laufschuhe aus der Sporttasche. Eineinhalb Stunden Trott durch den Grüneburgpark. Dann nach Hause, unter die Dusche. Und dann ins »Trapez«. Harri Ebinger, der Direktor von Deutschlands schönstem Varieté, wie er auf seine bescheidene Weise behauptete, hatte sie zum Eröffnungsabend seiner neuen Frühjahrsgala eingeladen.
    Sie zog sich um, schulterte die Sporttasche, griff sich den Aktenkoffer und ging zum Parkhaus. Ihr Gepäck warf sie auf den Rücksitz ihres grünen Sportwagens. Dann startete sie und fuhr die drei Etagen hinunter zum Ausgang. Dort waren die für Frauen reservierten Parkplätze, die auch heute, wie meistens, leer standen, weil ihre Kolleginnen ebensowenig wie sie glaubten, einen besonderen Schutz nötig zu haben. So beraubt man sich aus purem Stolz der wenigen Privilegien, die unsereins noch hat, dachte Karen und wedelte mit der Hand zu den leeren Parkplätzen hinüber.
    Am hinteren Eingang zum Grüneburgpark stellte sie ihr Auto ab – nur halb illegal, also ein Glücksfall –, stieg aus, schloß ab und trabte in gemütlichem Tempo los, gerade so, daß sie nicht außer Atem geriet.
    Es verblüffte sie immer wieder, wie unterschiedlich Menschen aussahen, wenn sie sich der Grundfortbewegungsarten bedienten. Vor ihr lief ein schlaksiger, offenbar junger Mann, der mit den großen Füßen seitwärts ausschlug, bevor er sie wieder aufsetzte. Die alte Dame, die ihr entgegenkam, trug eine leuchtend rote Mütze auf dem Kopf, den sie leicht zur Seite geneigt hielt, und trippelte wie eine Bachstelze auf Karen zu. Und hinter ihr rollte unter Schnaufen ein ganzer Trupp an, aus dem ein herzhaftes »Tempo, Tempo!« ertönte, während die alten Herren sie dampfend überholten. Strahlende Gesichter hatte sie heute noch nicht gesehen.

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