Wasser zu Wein
ihr auf, daß sie sich mitten auf der weinseligen Vergnügungsmeile Wingartens befinden mußte – auf der Winzergasse, im touristischen Bauch des Städtchens. Und das auch noch auf Krücken.
Karen war noch nie hier gewesen. Aber sie hatte von der Winzergasse gehört – wer hatte nicht von der Winzergasse gehört? Die lange, enge Straße vom Rheinufer hoch zur Kirche hatte Wingarten in den Jahren nach dem Krieg berühmt gemacht – ein Ruhm, der von amerikanischen Touristen und Soldaten in alle Herren Länder getragen wurde. Nach einem Tag am romantischen Rhein, vor einer Kulisse verfallener Schlösser und Burgen, kehrte man früher wie heute in der Winzergasse ein. Dort floß der Wein in Strömen, lagen sich alle schunkelnd in den Armen, gab es für wenig Geld viel und reichlich.
Karen schlug der Geruch von Bratfett aus dem Fenster einer Wirtschaft entgegen. Fast wäre sie gegen das dicke Faß gelaufen, mit dem der »Goethe-Keller« für seinen Weinausschank warb. Überall, glaubte sie plötzlich, war sie umzingelt von älteren Herrschaften, die irgend etwas mampften und dabei vorwurfsvoll guckten. Als eine angeheiterte Truppe sie zur Seite drängte, flüchtete sie in die nächste Toreinfahrt. Hinten im Hof spielte einer Akkordeon, eine Frau und zwei Männer saßen auf langen Bänken unter gelben Sonnenschirmen, schunkelten und versuchten mitzusingen. Karen ging weiter, bis sie hinter einer anderen Toreinfahrt eine weinberankte Pergola sah, in der bunte Glühbirnen hingen. Auf einem Holzbrett stand »Straußwirtschaft nach altherkömmlicher Art«.
Vor einer Phalanx von asiatisch aussehenden Besuchern in grauen Blousons und mit Videokameras in der Hand flüchtete sie sich hinein. Unter der Pergola war es kühl und duster, von langen Bänken blätterte die grüne Farbe, und ein einsamer Mann mit dicken Brillengläsern auf der Nase starrte in sein Glas.
Die Pergola überdeckte einen kopfsteingepflasterten Hof zwischen Haus und Bruchsteinmauer. Karen jonglierte zwischen Fuchsien und Geranienstöcken hindurch, die in großen Blecheimern wuchsen, in denen, wenn es nach den Aufschriften ging, früher Kartoffelsalat, Mayonnaise oder Senf gewesen war. Die Wirtin saß in der hintersten, finstersten Ecke, vor einem unbeholfenen und gottlob schon ziemlich verblichenen Wandgemälde des alten Wingarten, und hatte die Hände über der weißen Küchenschürze gefaltet. Der glatzköpfige Mann sah nicht auf, als sich Karen schwerfällig in die Bank manövrierte, sondern rief laut »Wertschaft!« Vor lauter Schreck ließ Karen eine der Krücken fallen.
Die Wirtin rührte sich nicht vom Fleck und fragte aus sicherer Entfernung: »Was solls denn sein?« Karen verlangte vorsichtshalber den Wein, der ganz unten auf der Tafel stand. Die Wirtin rappelte sich hoch und wühlte klirrend in einem großen, brummenden Kühlschrank. »Ei, wo ist er dann?« murmelte sie.
Hatte Karen etwas Ungehöriges verlangt? Sicher war sie sich nicht.
»Ja mach als zu, Madda!« rief der Bebrillte, der noch immer in sein Weinglas starrte.
Martha holte mit einem Plopp den Korken aus der Flasche und watschelte mit Glas und Flasche an den Tisch. Ihre Beine waren dick bandagiert. Dann goß sie mit sicherer Hand das Glas bis unter den Rand voll. »Wohl bekomm’s!« Karen lächelte zurück und hob das Glas.
»Sehr zum Wohl, Frolleinsche.« Karen prostete auch dem Bebrillten zu, der den Kopf immer noch nicht hob.
»Sie müsse schonn was saache«, flüsterte die Wirtin ihr zu. »Der sieht nix mehr.«
»Halt dei Gosch, Madda!« Der Blinde hob abwehrend die Hand.
»Sehr zum Wohl«, sagte Karen brav und hob das Glas zum Mund. Der Riesling schmeckte etwas ölig und hatte den typischen Geschmack eines Rheingauers, den Paul »Petrol« nennen würde. Egal. Ihr schmeckte es.
»’s derft emol regne«, sagte der Mann nach einer Weile.
»Hmmm«, machte Karen. Wenn es nach ihr ginge, könnte das Wetter so bleiben. Die Wirtin hatte sich wieder in ihre Ecke gesetzt. Eine Fliege beendete auf dem braunlackierten Tisch flügelschlagend und immer engere Kreise ziehend ihr Leben.
»Mir sinn noch im Rhein geschwomme«, sagte der Mann. Karen gab einen höflichen Laut von sich.
»Ewwin!« Martha hatte die Geschichte wahrscheinlich schon tausendmal gehört.
»Mit Eichenholz und Rebensaft der Küfer sich durchs Leben schafft«, las Karen auf einem Teller, der ihr gegenüber an der Hauswand hing.
»Wertschaft!« Der Mann setzte das Glas laut auf dem Tisch auf. Die Wirtin
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