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Wasser zu Wein

Wasser zu Wein

Titel: Wasser zu Wein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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um im abgedunkelten Zimmer verpaßten Lebenschancen hinterherzuweinen und an ein Kind zu denken, von dem sie nichts wußte – außer, daß es heute dreizehn wäre. Wenn sie damals nicht zu feige gewesen wäre …
    Karen schüttelte sich. Was für ein Quatsch. Sie trug weder maßgeschneiderte Kostüme noch saß sie im abgedunkelten Zimmer und heulte. Und schuld an ihrer Unfruchtbarkeit war nicht sie, sondern der Kurpfuscher von Arzt. Und: Was vorbei ist, ist vorbei.
    Sie stemmte sich hoch, schwang sich an den Krücken ins Bad, zog sich die Lippen und die Augenbrauen nach und sah ihrem Spiegelbild kritisch in die Augen.
    Vorbei. Strich drunter.
    Sie ließ die Tür des Hotelzimmers hinter sich zufallen und atmete tief durch. Dann klopfte sie an Pauls Zimmertür. Nichts rührte sich. Wo war der Kerl? Fast hätte sie sich Sorgen gemacht, nein: beinahe hätte sie sich darüber geärgert, daß er sie so lange allein ließ. Die Weinprobe war doch sicher schon längst zu Ende. Andererseits: War er für ihr Glück verantwortlich? Und hatte der Beinbruch sie vielleicht hilflos gemacht?
    Sie schwang sich an ihren Krücken den langen, mit Teppichboden ausgelegten Gang hinunter zum Fahrstuhl. Niemand begegnete ihr, die Zimmermädchen hatten ihre Arbeit getan, und die Gäste waren unterwegs. Trotzdem überfiel sie auf der Mitte der Strecke das Gefühl, daß sie nicht allein war. Irgend etwas atmete, in langen, tiefen Zügen. Sie lauschte dem Geräusch hinterher und hatte plötzlich das beklemmende Gefühl, daß es das Haus selbst war, das zu leben angefangen hatte. Das alte Gemäuer um sie herum umfing sie wie ein lebendes Wesen – wie ein Fabeltier, das atmete, sich bewegte und seltsame Geräusche machte. Sie schüttelte den Kopf. Was für ein Unsinn. Resolut ging sie weiter.
    Am Ende des Gangs bog sie um die Ecke und blieb wieder stehen. Diesmal hatte sie Kinderweinen gehört, ein dünnes Greinen. Und dann verschlug es ihr den Atem. Ein Schwall kalter Luft stülpte sich über sie, ein Eiseshauch, der nach tiefem, feuchtem Keller schmeckte. Ihre Phantasie spielte ihr Verliese und Grüfte und hinabführende Wendeltreppen hinter Tapetentüren vor – und, als das Greinen in einen schrecklichen Schrei mündete, gefangene Jungfern und angekettete Helden.
    »So ein Blödsinn«, sagte sie laut. Dennoch ging sie schneller, und als sie endlich beim Fahrstuhl war, hätte sie fast ihre Krücken fallengelassen, so hastig streckte sie die Hand aus zum Knopf neben der Fahrstuhltür. Sie zwang sich zur Ruhe. Natürlich spukte es nicht in alten Hotels. Jedenfalls nicht automatisch. Es mußte also ein lebender Spuk sein, der durch die »Traube« geisterte. Und plötzlich hatte sie Elisabeth Klar vor Augen, ihre dunkle Gestalt, die verkörperte Verzweiflung. Elisabeth Klar, die wie ein Gespenst durch das alte Hotel wanderte, begleitet von ihrer ebenso gespenstischen Katze.
    Als Karen aus der großen Eingangstür in die Helligkeit des Frühlingsnachmittags hinausgetreten war, atmete sie auf. Die warme Luft roch nach blühenden Bäumen und nach Wasser. Sie wandte sich nach links und folgte den krummen Gassen zu Wallensteins Haus.
    Seine Haushälterin öffnete ihr die Tür, Agata, mit zum Pferdeschwanz gebundenen dunkelblonden Haaren und in Leggins und T-Shirt. Die Frau hatte sich ein Geschirrtuch um die Hüften gebunden, an dem sie sich die Hände abtrocknete. Als Karen sie nach Wallenstein fragte, wiegte sie den Kopf. »Der Arzt ist da«, sagte sie. »Aber kommen Sie rein.« Sie ging voraus. Karen folgte ihr durch den düsteren Flur in den hinteren Bereich des Hauses, in die Küche.
    Sie fühlte sich in eine vergangene Welt eintauchen, als sie sich auf einen blankgesessenen Stuhl fallen ließ. Neben dem auch schon betagten Elektroherd stand ein wuchtiger Küchenherd Marke »Juno«, gußeisern mit weißer Emaille und mit einem kupfernen Schiffchen links von den beiden Kochplatten. Darin, das wußte sie aus dem Heimatmuseum, hielt man früher das Wasser warm. Der riesige Kühlschrank mit den abgerundeten Türen brummte, exakt so ein stromfressendes Ungetüm hatten sie noch zu Studentenzeiten in ihrer Wohngemeinschaft stehen gehabt. Heute war das Modell mit erneuertem Innenleben wieder auf dem Markt, für gutverdienende Nostalgiker.
    Agata hatte Wasser in den Kessel gefüllt und auf den Herd gesetzt. Aus dem Küchenbüffet dem Fenster gegenüber holte sie eine Kaffeedose. Die gläsernen Türen des Oberschranks waren mit gehäkelten Gardinen

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