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Wasser zu Wein

Wasser zu Wein

Titel: Wasser zu Wein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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Frau? Nein.« Sie zögerte. »Aber die anderen, die haben sie gekannt.«
    »Welche anderen?«
    »Die Männer.«
    »Und – wer im speziellen?«
    »Alle«, sagte Agata knapp und verstummte dann. Karen sah, wie sich die Hände der Frau auf dem Schoß verkrampften. Sie vermied es, Karen anzusehen. Ihr Gesicht hatte sich plötzlich verschlossen.
    Karen seufzte innerlich auf – sie kannte die Zeichen. Eben noch hatten zwei Frauen am Küchentisch gesessen und sich unterhalten. Minuten später war einer der beiden klar geworden, daß die Frau, bei der sie sich ausweinte, keine Freundin war und noch nicht einmal eine wie du und ich – sondern daß ihr gegenüber eine Fremde saß. Schlimmer noch: eine Staatsanwältin – und auch noch aus Frankfurt. So einer vertraute man nicht.
    Karen fand den Gedankengang schmerzlich und konnte ihn dennoch nachvollziehen. Denn was tun Staatsanwälte? Sie verhören.
    Agata wies mit der Hand vage dorthin, wo man Wallensteins Schlafzimmer vermuten konnte. »Sieht aus, als ob das noch dauert.« Wieder vermied sie es, Karen in die Augen zu sehen.
    Die verstand auch so. »Ich gehe dann wohl besser.« Die Erleichterung auf dem Gesicht der Frau versetzte ihr einen Stich.
    Im Hausflur empfing sie ein warmer, ranziger Geruch, der ihr unendlich vertraut war und in ihr eine Sehnsucht weckte, deren Heftigkeit sie erstaunte. Sie war in eine Wolke von frischem Zigarettenrauch geraten. Und plötzlich, das erste Mal seit sieben Jahren, hatte sie wieder Verlangen nach einer Zigarette. Nur eine, dachte sie. Nur eine!
    Erst nach drei Schritten den Flur hinunter fragte sie sich, woher der noch warme Zigarettenrauch gekommen war. Offenbar hatte jemand vor Wallensteins Küchentür gestanden und eine Zigarette geraucht. Aber wer? Und warum war er oder sie nicht in die Küche gekommen?
    Agata war vorausgegangen und wartete bereits an der Haustür. »Danke für den Kaffee«, sagte Karen und nahm resigniert zur Kenntnis, daß es ihr wieder einmal wie gewohnt ergangen war. Sie hatte einen Beruf, der andere mit Ängsten erfüllte.
    Die meisten Menschen wurden in ihrer Gesellschaft irgendwann befangen. Karen fand das ungerecht – sie sah sich in erster Linie als Vertreterin der beschützenden, nicht der strafenden Staatsmacht. Doch ausgerechnet sie schien die anderen daran zu erinnern, daß sie alle Sünder waren.

4
    Der Himmel war trüb geworden, während sie in Wallensteins Küche gesessen hatte. Draußen wehte ihr der Wind die Haare ins Gesicht und wickelte ihren Rock um die beiden Krücken. Karen nahm das nur nebenbei zur Kenntnis, während sie sich in Bewegung setzte. Viel mehr beschäftigte sie das, was Agata ihr erzählt hatte – vielmehr: was sie ihr nicht erzählt hatte. Was sollte das heißen – »alle« Männer kannten Eva? Sie sei das schönste Mädchen von Wingarten gewesen, hatte Paul gesagt. War das ganze Dorf, zumindestens seine männliche Hälfte, in sie verliebt gewesen?
    Das, dachte sie mit einem Anfall von Selbstmitleid, hätte ihr mal passieren sollen. Auch sie war »anders« gewesen – immer schon. Aber das hatte nicht gerade Bataillone von Verehrern angelockt. Wer schwärmte schon für ein Mädchen, das größer war als man selbst und das nicht gerade dumm war – aber keineswegs so klug, diesen Tatbestand zu verschweigen?
    Eva. Die blonde, schöne Eva. War sie wirklich so unschuldig und lieb gewesen, wie Paul sie in Erinnerung hatte? Und was war dann aus ihr geworden in den Jahren danach – was hatte ein liebes, unschuldiges, schönes Mädchen dazu gebracht, sich auf diese martialische und entsetzliche Weise umzubringen? Und warum wollte niemand im Dorf daran erinnert werden?
    Gedankenverloren ließ sie sich treiben durch die engen Gassen Wingartens. Die Menschenmenge wurde immer dichter, und sie kam nur langsam voran zwischen den schwatzenden, lachenden, im Schneckentempo schlendernden Männern und Frauen. »Na, wem haben Sie denn in den Arsch getreten?« Ein rotgesichtiger älterer Herr zeigte auf Karens Gipsbein. Seine Begleiterinnen kicherten. Sie lächelte höflich zurück.
    Die Gasse wurde enger und steiler, aus den weitgeöffneten Fenstern und Türen der Kneipen und Restaurants quollen die Klänge und balgten sich um die Vormacht. Eine Dreimannband spielte alte Beatles-Songs – die Musiker alle im richtigen Alter. In der nächsten Kneipe sang das ganze Publikum mit, als der Mann am elektronischen Klavier »Schöne Maid, hast du heut für mich Zeit« intonierte. Jetzt endlich ging

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