Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wasser

Wasser

Titel: Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Terje Tvedt
Vom Netzwerk:
steigende Meeresspiegel.

Das aztekische »Land am Wasser« und die unterirdische Wasserwelt der Maya
    Viele Menschen verbinden Mexiko-Stadt mit Umweltverschmutzung, Slums, schreiender sozialer Ungerechtigkeit oder denken dabei an Bob Beamon, der hier 1968 seinen fantastischen Weltrekord im Weitsprung aufstellte, als er bei 8,90 Meter landete. All das ist dieser Ort. Für mich ist das Faszinierendste jedoch der Anflug auf die Stadt. Am späten Abend sinkt das Flugzeug nach Überquerung der hohen Berge, die sie umgeben, langsam ab, der Pilot legt die Maschine auf die Seite und plötzlich – ein riesiges Lichtermeer. Das Wort Megalopolis, mit dem gigantische, auf einer neuen Stufe der gesellschaftlichen Organisation angelangte Großstädte bezeichnet werden, materialisiert sich hier ganz konkret. Ich weiß, dass Mexiko-Stadt inzwischen an zweiter Stelle der bevölkerungsreichsten Städte weltweit rangiert und dass hier 6000 Menschen auf einem Quadratkilometer wohnen, im Stadtkern sogar wesentlich mehr. Ungefähr jeder fünfte Mexikaner, also zehn Millionen Menschen, und die Hälfte der Industrie des Landes sind in den Grenzen der Stadt zusammengepfercht. Die Fläche Mexiko-Stadts umfasst etwas mehr als 2200 Quadratkilometer. Die europäischen Städte waren im 19. Jahrhundert in der Regel so groß, dass die Menschen im Alltag beinahe jeden Winkel noch zu Fuß erreichen konnten. Das Rom der Kaiserzeit hatte eine Fläche von circa sieben Quadratkilometern, und London umfasste im Mittelalter nicht mehr als 1,3 Quadratkilometer. Außerdem hatte ich gelesen, dass Soziologen und Historiker, die zum Thema Urbanisierung arbeiten, viele ihrer Begriffe und Blickwinkel in Anbetracht solcher Dinosaurier revidieren müssen. Aber nichtsdestoweniger – die Größe MexikoStadts ist erst einmal überraschend, und ich kann ein wenig vom Umfang der behördlichen Probleme in dieser Stadt erahnen, die zwar über kein eigentliches Zentrum verfügt, dafür jedoch über enorme soziale Unterschiede, und die vor gut hundert Jahren nurcirca 345 000 Einwohner hatte – heute dagegen ist es etwa das Dreißigfache.
    Die Muster des Lichtermeeres unter mir zeigen außerdem eine andere Besonderheit: Hier gibt es keine dunklen Streifen, die die Monotonie aufbrechen, keine Flüsse, in denen sich die Lichter spiegeln könnten wie beispielsweise im Hudson in New York, in der Londoner Themse, im Edo von Tokio, in der Seine in Paris oder der Spree in Berlin. Die Stadt verfügt schlichtweg über keinen Fluss, den sie nutzen könnte, und da sie in einer Höhe von 2200 Metern liegt, gibt es auch keine größeren Seen, aus denen sich Wasser heranführen ließe. Die Stadtväter können nicht wie die Römer Wasser über Aquädukte in die Stadt leiten und auch nicht wie die Londoner das Wasser der Themse acht Mal verwenden, bevor es flussabwärts geschickt wird. Wie gelingt es den Behörden also, genügend Wasser in eine solche Stadt zu bringen, zu all den Haushalten und Industrieanlagen, für das Waschen der Autos und das Reinigen der Straßen, wenn es weder Flüsse noch größere Seen gibt?
    Vor dem weltbekannten Nationalmuseum für Anthropologie in Mexiko-Stadt steht eine mehrere Meter hohe Steinstatue des Gottes Tlaloc. Erschaffen wurde sie zur Zeit der Azteken – eine indianische Hochkultur, die die mexikanische Hochebene bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts dominierte und deren größte Stadt, Tenochtitlan, bevölkerungsreicher als jede europäische Stadt war, vielleicht mit Ausnahme von Neapel, der damals größten Stadt Europas. Die Statue, die sich in einem kleinen, fast viereckigen Wasserbecken spiegelt, wirkt eher unförmig als furchteinflößend, soll den Betrachter jedoch an die Bedeutung des Wassers in jener Zivilisation erinnern. Tlaloc, der Anführer einer Gruppe von Regengöttern, der
tlaloques
, forderte wie die anderen aztekischen Götter Menschenopfer, um zufriedengestellt zu werden, besonders Kinder. Schreiende, weinende Kinder mit vielen großen Tränen waren besonders geeignet, um Tlaloc zu erweichen. Die Kinder wurden zunächst geschlagen, damit sie in Tränen ausbrachen. Und auch alle anderen schlugen gegenseitig aufeinander ein, denn die Tränen der Menschen solltenbewirken, dass Tlaloc seine Tränen aus den Wolken entließ. Die Zeremonie wurde abgeschlossen, indem man die Kinder ertränkte; nun konnten die Götter den Regen kommen lassen.
    Doch um nicht ausschließlich auf den Regen, also Tlalocs Tränen, vertrauen zu müssen,

Weitere Kostenlose Bücher