Wasser
klassische Landwirtschaft im Sinne eines Rodungsbaus, sondern zogen eine anspruchsvollere Variante mit Terrassierungen und verschiedenen Formen der Bewässerung vor.
Die Mayazivilisation expandierte in Perioden, in denen es regelmäßig viel Niederschlag gab. Als sich das Klima verschlechterte und der Regen zwischen 800 und 900 für mehrere Jahre hintereinander aussetzte, wurde eine Kettenreaktion ausgelöst, die letztlich mit dazu führte, dass die Zentren südlich der Yucatán-Halbinsel aufgegeben werden mussten und vom Dschungel verschluckt wurden. 27 Da das erforderliche Wasser ausblieb, konnten sich weder die Städte noch die landwirtschaftlich geprägten Regionen länger am Leben erhalten. Die Position der Herrscher in der Gesellschaft hing davon ab, dass sie die Bevölkerung ausreichend mit Wasser und somit Nahrung versorgten, und die Vorstellung von ihrer besonderen Verbundenheit mit den Wassergöttern war ein zentraler Bestandteil ihrer Legitimation. Als das Wasser verschwand, brachen auch die Grundpfeiler ihrer Macht zusammen. Veränderungen im lokalen hydrologischen Kreislauf hatten also Auswirkungen auf die Autoritätsverhältnisse und somit auf die Fähigkeit der Gesellschaft, von außen kommende Angriffe zu bewältigen.
Wasser ist ein flüchtiger, aber gleichzeitig strukturell ewig währender Faktor, der dazu beitragen kann, Aufstieg und Fall der Mayazivilisation zu erklären, der jedoch gleichermaßen aufzeigt, dass es viel zu einfach ist, nur von einem simplen Zusammenbruchder Zivilisation zu sprechen. Dies lässt sich heute auf der Yucatán-Halbinsel gut erkennen, nicht zuletzt in Chichén Itzá, einer alten Mayastadt von zehn Quadratkilometern Fläche, die ihre Glanzzeit erst erlebte, als viele der zentralen Städte aus der klassischen Periode der Mayazivilisation bereits lange verlassen worden waren. Denn diese Stadt konnte aufgrund einer einzigartigen Wasserlandschaft überleben.
Während die Sonne ihre ersten, beinahe goldenen Strahlen durch eine überaus feine Dunstschicht auf die Spitze der 24 Meter hohen Kukulcán-Pyramide im Zentrum von Chichén Itzá lenkt, erklimme ich die vielen Stufen. Ich höre nichts anderes als das Geräusch meiner eigenen Schritte, einen bellenden Hund und einen unaufhaltsamen Specht irgendwo in den Bäumen hinter der Ruine des früheren Observatoriums. Ich muss an den Schöpfungsmythos »Popol Vuh« denken und fühle mich erhaben. In diesem klassischen Mayatext, der eine mehr oder weniger unverständliche Welt schildert, wird der wichtigste Schöpfungsvorgang als Morgengrauen beschrieben – und welch ein Morgengrauen wird mir hier auf der Kukulcán-Pyramide zuteil!
Die Welt und die Menschheit lebten in Finsternis, doch dann erschufen die Götter Sonne und Mond – und das Morgengrauen. Die Maya entwickelten ein Observatorium, einen Kalender und eine ausgefeilte Astronomie. Alle vier Seiten der Pyramide sind exakt auf die Himmelsrichtungen ausgerichtet, insgesamt gibt es 365 Stufen, einschließlich der obersten Plattform. Je näher ich der Pyramidenspitze komme, desto leichter begreife ich, dass Chichén Itzá in einer jahreszeitlich bedingten Wüste liegt und wie sehr der Name der Stadt die Bedeutung des Wassers unterstreicht: Er setzt sich aus
chi
(Münder),
chén
(Brunnen) und
Itzá
zusammen, was den Namen des Stammes bezeichnet, der sich hier niederließ.
Von der Spitze der Pyramide kann ich den
Cenote Sagrado
(heiliger Brunnen) sehen. Er ist der berühmteste der drei Brunnen, die die Stadt bewohnbar machten, bekannt insbesondere dafür, dass er, nach Ansicht vieler Forscher, auch als Opferplatz – besondersfür junge Knaben – diente. Herrscher und Priester opferten sich sogar selbst, schnitten sich Zunge, Ohren oder Penis ab, andere Menschen wurden geopfert, indem man ihnen das Herz herausriss. Im Jahr 1904 kaufte der US-Amerikaner Edward Herbert Thompson die ganze Gegend und begann mit archäologischen Ausgrabungen. Unter anderem entfernte er das Wasser aus diesem besonderen Brunnen und stieß darin auf Skelette und andere Opfergaben, womit er die These vom Opferplatz untermauert sah.
Von der Spitze der auch als »El Castillo« bezeichneten Pyramide kann ich also den Anlass für meine lange Reise erblicken: die Cenoten. Überall in Chichén Itzá und auf der Yucatán-Halbinsel finden sich solche beständigen Wasserquellen, die es auch schon gab, als die Maya in Richtung Norden emigrierten. Die Dzonot, wie sie die Maya nannten, führten sogar Wasser,
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