Wasser
entwickelte die Bevölkerung ein einzigartiges Landwirtschaftssystem: Sie erbaute, was etwas missverständlich als »schwimmende Gärten« oder
chinampas
bezeichnet wird. Das Kerngebiet dieser später als Aztekenreich bezeichneten Region wurde »Land am Wasser« genannt, die bekannteste Stadt der Azteken hieß »Stein in steigendem Wasser«. Inmitten der Seen des Mexiko-Tals, dort, wo heute Mexiko-Stadt liegt, schufen sie eine Gesellschaft, die ökonomisch auf einer großen Zahl kleiner, künstlicher Inseln basierte, von denen jede zwischen sechs und zehn Metern breit und ein- bis zweihundert Meter lang war. Diese Landwirtschaftsinseln waren äußerst fruchtbar, da man sie mit Schlamm vom Seeboden versah. Die Pflanzen bekamen genügend Feuchtigkeit und erhielten Dünger durch Abfallprodukte im Schlamm sowie Nährstoffe im See. Heute ist davon nur noch der kleine ökologische Park Xochimilco übrig geblieben, der ein paar Kilometer vom Stadtzentrum Mexiko-Stadts entfernt liegt. Als die Spanier die Hochebene im Jahr 1519 angriffen, begannen sie ganz schnell damit, die Seen zu entwässern. Die Konquistadoren hatten ein militärisches Motiv: Indem sie das Wasser abgruben, schränkten sie zunächst die militärische Mobilität der Azteken ein und schwächten darüber hinaus ihre Lebensgrundlage. Zwischen 1607 und 1608 wurde das meiste Wasser aus den fünf damals bestehenden Seen entfernt. Im 19. Jahrhundert sowie zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde der Texcoco-See dann endgültig trockengelegt, um einerseits die ständig auftretenden Überschwemmungen zu begrenzen und andererseits die schrittweise Entwicklung der Stadt zu beschleunigen und Bauland zu schaffen.
Die Leitung des Xochimilco-Parks hat mich zu einer Besichtigung eingeladen. Daher entgehe ich den zahlreichen Gruppen von Musikern in ihren allzu engen farbenfrohen Hosen und Jacken, dieden Besuchern mit schmachtendem Blick und klingender Stimme anbieten, die eine oder andere Serenade anzustimmen. Stattdessen kann ich mir die Kanäle und »schwimmenden Gärten« in Ruhe ansehen. Xochimilco, buchstäblich ein See der Fruchtbarkeit, ist nicht nur ein konkretes Beispiel für die vielen Möglichkeiten, in denen Wasser und Land miteinander verbunden sein können und so die Grundlage für unterschiedliche Gesellschaften schufen, sondern auch ein beeindruckendes Testament einer frühen Lebensart.
Dieser Eindruck des Wasserreichtums in Xochimilco wird kontrastiert vom Zustand der Wasserversorgung in Mexiko-Stadt, die einzig auf Grundwasser basiert. Den Tränen Tlalocs noch weniger vertrauend als seinerzeit, gibt es heute über 10 000 Pumpstationen, die ungefähr 50 000 Liter Grundwasser pro Sekunde (!) nach oben befördern. Doch der Wasserbedarf übersteigt bei weitem das, was die lokalen Grundwasserreservoire hergeben. Mittlerweile sind umfangreiche und kostspielige Projekte ins Leben gerufen worden, um Wasser aus Flüssen und Quellen zu gewinnen, die 200 Kilometer von der Stadt entfernt und mehr als 1000 Meter tiefer als diese liegen. Mithilfe des Cutzamala-Projektes, das in den 1990er Jahren verwirklicht wurde, werden 14,9 Kubikmeter Wasser pro Sekunde aus dem Cutzamala-Fluss im Balsas-Bassin, aus dem Südwesten des Landes, in den Großraum Mexiko-Stadt überführt, um dort als Trinkwasser verwendet zu werden. Das Projekt besteht aus sieben Reservoirs und einem 127 Kilometer langen Aquädukt, davon 21 Kilometer übertunnelt, und deckt 20 Prozent des städtischen Wasserbedarfs. Die Ausgaben steigen, während sich das Grundwasservorkommen reduziert – und das, obwohl der Wasserverbrauch in Teilen der Bevölkerung äußerst gering ist. Millionen sind gezwungen, ihr Wasser von privaten Verkäufern zu beziehen, ein Umstand, der mittlerweile zum normalen Straßenbild einzelner Stadtviertel gehört. Kolonnen von Tankwagen sind in den Bezirken unterwegs zu großen Wassertonnen, die vor den Häusern stehen. So beschaffen sich hier viele Menschen Wasser, um zu trinken, sich zu waschen, zu kochen und die Wohnungen zu putzen.
»Achten Sie auf Ihren Kopf.« Hinter dem Bauleiter zwänge ich mich in die Gänge unter der Krypta von Mexiko-Stadts zentraler Kathedrale. Während ich mit eingezogenem Kopf weiterlaufe und aufpasse, seitlich nicht gegen Spaten oder Schubkarren zu stoßen, die an den Wänden aufgestellt sind, offenbart sich mir eine tragische, geradezu surrealistische Szenerie: An die zweihundert Bauarbeiter sind rund um die Uhr beschäftigt – nicht, um irgendetwas
Weitere Kostenlose Bücher