Wasser
Bild der Meinungsverteilung in der globalen Umweltdebatte auf den Kopf stellt. Gewöhnlich hat die traditionelle »Rechte« die Frage stets bagatellisiert, wohingegen die »Linke« darauf gedrungen hat, die Alarmzeichen ernst zu nehmen. Anders jedoch in Venedig. Höflich erwidere ich, dass ich nicht überrascht bin und seine Aussage nur ein allgemeines Phänomen bestätigt: wie nämlich die Entwicklung des Klimas und der Wasserverhältnisse die politische Welt prägt. Wir sind uns einig: Es liegt im Wesen eben jener Unsicherheit, dass diese nicht nur zu einem globalen, machtpolitisch dimensionierten Kampf um die Deutungshoheit über die Zukunft des Wetters führt, sondern auch zu einem Konflikt zwischen unterschiedlichen Interessen, wie auf die Veränderungen reagiert werden soll. Einige werden die Bedrohungen nutzen, um Projekte zu fördern, aus denen sie ökonomischen und politischen Nutzen ziehen können, während andere nach Einfluss streben, indem sie sich zu selbsternannten Beschützern der Umwelt aufschwingen.
Als das Projekt beschlossen wurde, sagte einer der Leiter des World Wide Fund for Nature (WWF) in Venedig: »Das Schicksal der Stadt ruht heute auf einem prätentiösen, teuren und umwelttechnologischfraglichen Risikospiel.« 23 Der damalige Präsident der Region und ein Mitglied der Regierungspartei hingegen äußerten: »Der Beschluss des MOSE-Projektes wird zu einem historischen Tag für Venedig werden. Die ganze Welt wird applaudieren, und nur die Gummistiefelhersteller werden klagen.« 24 Der Ministerpräsident Silvio Berlusconi und sein Vorgänger Romano Prodi waren für das Projekt. Das Büro des venezianischen Bürgermeisters ist dagegen. Die lokalen Regierungsbehörden sind der Ansicht, das Projekt beruhe auf einem bereits veralterten Modell über den künftigen Anstieg des Meeresspiegels (die Erbauer der Schwingtore gehen von einem Anstieg von 15 bis 20 Zentimetern bis zum Jahr 2100 aus) sowie einem viel zu einfachen Grundverständnis von der komplexen Ökologie der Lagune. Die Projektgegner möchten lieber das machen, was die Venezianer schon immer getan haben, nur in größerem Umfang: den Grund der Kanäle vom Schlamm reinigen, die Kanäle tiefer ausbaggern und die Gebäude stützen. Sie verweisen darauf, dass niemand genau wisse, wie sich das Klima verändert und den Meeresspiegel beeinflusst. Viele sind der Ansicht, dass das Projekt nur vorgibt, die lokale Ökologie zu retten, sie in Wirklichkeit jedoch zerstört. Ironie des Schicksals und typisch für das Wesen der Unsicherheit: Im Jahr 2006, nach dem Beschluss für das Projekt, war der Meeresspiegel so niedrig wie seit vielen Jahren nicht mehr.
Die Unsicherheit in Bezug auf MOSE in Italien steht für die künftige Situation auf der ganzen Welt: Zum ersten Mal sind wir alle dazu verurteilt, die heutige Gesellschaft zu gestalten, indem wir auf Vorhersagen über die Zukunft des Wassers reagieren. Aus Angst vor steigendem Wasser hat die Regierung auf den Malediven die künstliche Insel Hulhumalé gebaut – 1,5 Meter über dem Meeresspiegel. 125 000 Menschen, ungefähr die Hälfte der Bevölkerung des Landes, können im Bedarfsfall evakuiert werden. Eine moderne Arche Noah für Wasserflüchtlinge. Steigt das Wasser um mehr als 1,5 Meter, müssen sie die Insel erhöhen. Schwindet das Grönlandeis, werden auch London und New York bedroht sein. Und sollte die Antarktis abschmelzen, steigt der Meeresspiegel um 61 Meter, undnoch viel mehr Menschen müssen in die Rettungsboote springen. Nur die wenigsten glauben, dass dies passieren wird, und wenn, dann nur in sehr ferner Zukunft. Aber fast alle rechnen damit, dass größere Teile des Eises abschmelzen und ins Meer fließen werden und dass viele vor Herausforderungen stehen werden, von denen heute niemand weiß, wie sie zu bewältigen sind. Trotzdem müssen sich alle irgendwie dazu verhalten.
Die Wasser- und Kanalstadt Venedig verlasse ich per Boot. Die Kanäle sind keineswegs so anachronistisch, wie man denken könnte, wenn sich die mit Touristen bevölkerten Gondeln vorsichtig unter den niedrigen Brücken hindurchschieben. Sie sind zugleich die Lebensadern der Stadt, der einzige Weg für die Feuerwehr wie auch für die Nudellieferanten.
Und während mein Boot im Dezembernebel aus der hart geprüften Lagune gleitet und ich das Wasser gegen die Hauswände klatschen höre, ist es ganz leicht, die Furcht zu spüren vor dem, der sich als unbekannter Tyrann der Zukunft erweisen könnte: der
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