Wasser
Der Dom, angeblich erbaut über den sterblichen Überresten des Propheten Markus (der Legende nach wurde seine Leiche aus Ägypten gestohlen und auf einem Schiff unter einer Ladung Schweinefleisch verborgen, um einer näheren Kontrolle durch die Muslime zu entgehen), steht im Wasser. Noch bevor ich meiner Überraschung Herr werden kann, heulen Sirenen hinter den Mauern des Dogenpalastes. Städtische Angestellte eilen herbei und bauen einen Bretterweg auf, damit die Bewohner trockenen Fußes zur Arbeit gelangen können. Auch die Verkäufer gelber Gummistiefel sind schnell zur Stelle. Für mich ist es ein alarmierendes Zeichen, dass ich auf einfachen grauen Brettern über diesen Platz balancieren muss, der zu einem der meistbesuchten und -bewunderten Orte der Welt gehört. In einem der zahlreichen Museen der Stadt habe ich am Tag zuvor Gentile Bellinis berühmtes Bild »Prozession auf der Piazza San Marco« gesehen, eine Augenblicksstimmung vom Markusplatz im Jahr 1496. Heute bin ich von vielen der Häuser umgeben, die Bellini damals malte, doch aus der Entfernung wirken sie eher wie schwere Schiffe auf hoher See. Ein paar der Restaurants am Platz müssen schließen, und statt die Menschen an den Tischen zu bedienen, hängen die Angestellten grüne Schläuche aus den Fenstern, um das Wasser von den Fußböden zu pumpen. Anscheinend haben sich die Venezianer bereits auf diese für mich ungewöhnliche Situation eingestellt. Die Unsicherheit über das Klima der Zukunft ist hier augenfälliger als irgendwo sonst – immer häufiger steht die Stadt unter Wasser.
Schon immer haben die Venezianer gegen das Wasser gekämpft und gegen die Folgen, die die menschliche Beeinflussung nach sich zieht. Die Stadt und die Lagune, in der sie ruht, wurden vom Adriatischen Meer und den drei großen, dort mündenden Flüssen erschaffen. Im Laufe von tausenden Jahren entstanden durch den von den Wellen herangetragenen Flusssand hunderte kleiner Inseln. Nach und nach ließen sich Menschen hier nieder, zunächst überwiegend Fischer, doch dann, im 5. Jahrhundert, strömten viele herbei, die vor Attilas Hunnen geflohen waren. Im 14. Jahrhundert beschlossen die Venezianer, die drei Flüsse, die in die Lagune mündeten, aus der Stadt hinauszuleiten. 19 Dies verminderte nicht nur die Gefahr von Überschwemmungen, sondern die Lagune bewährte sich damit auch als Verteidigungsanlage, denn Angreifer konnten in einer Lagune mit so niedrigem Wasserstand keine Flotte manövrieren. Hätten die Venezianer – besonders im Mittelalter – nicht in die Prozesse der Natur und die Sedimentierung der Flüsse eingegriffen, wäre die Lagune wieder aufgefüllt worden, und die Stadt der Kanäle, wie wir Venedig heute nennen, würde zum Festland gehören. 20 Leonardo da Vinci war einer derjenigen, die die Besonderheit der Wasserlandschaft verstanden: Als die Stadt im 16. Jahrhundert von den Türken bedroht wurde, schlug er vor, einen beweglichen Damm über den Flüssen zu errichten, um die Angreifer zu ertränken. Er entwarf außerdem Schuhwerk, das es den Soldaten ermöglichen sollte, über den seichten Grund der Lagune zu schreiten, um die Schiffe der Türken von unten anzugreifen.
Im 20. Jahrhundert sank die Stadt um 23 Zentimeter. Teilweise hatte dies natürliche geologische Ursachen, doch vor allem pumpte die moderne Industrie auf dem Festland das Grundwasser unter Venedig ab. Nachdem dies im Jahr 1983 verboten worden war, hat das Absinken der Stadt beinahe völlig aufgehört. 21 Nun ist der steigende Meeresspiegel das Hauptproblem, und nach den dramatischsten Vorhersagen wird dies künftig noch zu einem ganz anderen Verhältnis zwischen den Marmorwänden und dem Wasser führen. Lord Byrons Gedicht aus dem Jahr 1819 hat sich als prophetischerwiesen: »Venedig! wenn erst deine Marmormauern / Dem Wasser gleich, dann werden Völker schwer / Ob der gefallnen, stolzen Hallen trauern, / Laut klagend über’s weite, dunkle Meer« 22 .
Der Markusplatz steht heute zehn Mal häufiger unter Wasser als vor hundert Jahren. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Stadt vier Mal pro Jahr überschwemmt. Im Jahr 1996 war der Markusplatz 90 Mal vom
acqua alta
betroffen. Das wohl deutlichste Anzeichen für eine ernsthaft veränderte Situation bot der 4. November 1966. An diesem Tag lag der Pegel 194 Zentimeter über dem normalen Gezeitenstand bei Flut und fiel erst nach drei Tagen wieder. Im Jahr 2002 standen allein im November große Teile der Stadt 15 Mal unter Wasser.
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