Wasser
Kinder; jemand, der Gustav Mahlers »Lied von der Erde« abspielt, während nebenan Geige geübt wird. Und plötzlich öffnet sich vor mir die Plaza de la Constitution. Hier ist auch das Wassergericht.
Seit über tausend Jahren treffen sich vor der Kathedrale von Valencia jeden Donnerstag um zwölf Uhr die Bauern, um kleinere Streitigkeiten um das Wasser auszutragen. Sie alle betreiben Landwirtschaft in der Nähe der acht künstlich angelegten Kanäle, welche die Stadt umgeben und die die Ebene von Valencia, die Huerta, zu einem der fruchtbarsten Gebiete Europas gemacht haben. Das Tribunal wurde um das Jahr 960 zur Zeit des arabischen Kalifats von Córdoba ins Leben gerufen. Als die Christen unter Führung Jakob I. Valencia im Jahr 1238 zurückeroberten, wurde die Moschee zerstört und am selben Ort eine Kathedrale erbaut. Da diese nicht für Muslime bestimmt war, mussten die Bauern, die sich vordem in der Moschee getroffen hatten, draußen zusammenkommen, vor dem Apostelportal.
Die Verhandlungen werden mündlich geführt, die Richter von den Bauern selbst gewählt und die Entscheidungen immer schnell gefällt, um die Pflege der Feldfrüchte nicht zu gefährden. Der Gerichtshof ist mittlerweile nicht mehr so bedeutend wie einst, wegen neu erbauter Staudämme flussaufwärts und weil der Fluss Turia,an dem die Stadt einst gegründet wurde, um diese herumgeleitet wurde und sein ursprüngliches Bett trockengelegt das Zentrum Valencias »durchfließt«. Außerdem werden hier auch deswegen immer weniger Fälle verhandelt, weil der Gerichtshof in den tausend Jahren seines Bestehens eine so starke Position erlangt hat und seine Richter derart klare und harte Urteile fällen, gegen die es kein Widerspruchsrecht gibt, dass die Menschen eher geneigt sind, einen Prozess hier zu vermeiden.
Die schwarze Eisenpforte wird geöffnet, und würdevoll treten die Richter hinter diese vorübergehende Absperrung, die das Gericht markiert. Dann nehmen sie auf den acht im Halbkreis aufgestellten Stühlen Platz. Die Richter bewegen sich mit beinahe ritueller, aus Erfahrung gewonnener Sicherheit. Der Gerichtsdiener fragt im katalanischen Dialekt Valencias, ob jemand eine Klage vorzubringen habe und hebt dabei den mit dem Symbol der Reispflanze geschmückten Stab – so, wie es die Gerichtsdiener schon seit eintausend Jahren tun. Die meisten Klagen sind gegen Menschen gerichtet, die ihre Pflanzen mit »verbotenem Wasser« versorgen, Wasser also, auf das andere, oft weiter entfernt an einem Kanal lebende Menschen ein Anrecht haben. Oder es geht um Wasserverschwendung, weil Bauern ihre Felder zur falschen Tageszeit besprengen oder Wasser für ein Feld nutzen, das gar keines benötigt und dergleichen. An diesem Tag bittet eine Frau um Unterstützung für ihre Klage gegen einen Bauunternehmer, der sowohl Menge als auch Qualität ihres Wassers vermindert hat.
Das Bewässerungssystem in der Huerta war eine wichtige ökonomische Voraussetzung für das unabhängige Königreich Valencia. Ursprünglich von den Römern gegründet, erlebte es eine neue Blütezeit unter arabischer Herrschaft ab dem Jahr 714. Die kleinen landwirtschaftlich genutzten Schollen, Minifundien, in der Umgebung von Valencia werden von Bewässerungsgräben durchkreuzt beziehungsweise flankiert und bilden ein System, das es den Bauern über Jahrhunderte hinweg erlaubte, bis zu vier Mal im Jahr zu ernten. Valencia fungierte aufgrund dieses Bewässerungssystems alsBrücke für Lebensmittel aus dem Mittleren Osten. Reis, den die meisten mit Asien verbinden, ist seit Jahrhunderten das Nationalgericht in Valencia – die Paella besteht aus mit Safran gewürztem Reis, der mit Fleisch, Meerestieren und Gemüse zubereitet wird – und wurde über den Mittleren Osten aus Asien eingeführt. Auch Orangenbäume werden hier seit hunderten von Jahren künstlich mit Wasser versorgt. Die Araber brachten die Bäume aus Indien mit, zunächst nur als Schmuck. Folgt man dem großen arabischen Historiker Ibn Chaldun aus dem 14. Jahrhundert, so hielten die Araber Orangen seinerzeit für nicht essbar. Trotzdem fand die Frucht über diese Region ihren Weg nach Europa. Als britische und französische Kolonialbeamte sowie amerikanische Wasserexperten Ende des 19. Jahrhunderts die künstliche Bewässerung in großen Teilen Indiens, Ägyptens und den USA einführen wollten, kamen sie zunächst nach Valencia, um sich hier in der Huerta zu informieren.
Die tausendjährige Geschichte des Wassergerichtes
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