Wasser
hätten mithilfe der von einem Bewässerungssystem abhängigen Landwirtschaft auch nicht ernährt werden können. Doch mittlerweile ist die Einwohnerzahl des Landes auf das 20-fache angestiegen. Ägypten hat mehr als achtzig Millionen Einwohner und ist weit davon entfernt, alle aus eigener Kraft versorgen zu können. Jeder vierter Araber lebt heute in Ägypten, und es gibt Prognosen, nach denen sich die Einwohnerzahl bis 2050 auf 140 Millionen erhöhen wird. Während man von Europa behaupten könnte, dass sein Niedergang der sinkenden Geburtenrate geschuldet ist, ließe sich über Ägypten sagen, dass das Land in den letzten hundert Jahren von seiner eigenen Fruchtbarkeit überschwemmt wurde. Ermöglicht hat dieses Wachstum der Aufbau eines umfassenden Systems aus Dämmen und Kanälen, so dass die Felder heute mehrmals pro Jahr bewässert werden können und drei Ernten statt nur einer möglich sind. Aber wird der Nil Ägypten auch in Zukunft helfen können?
Erst wenn man in Assuan steht und über den Nil blickt, wird man wirklich verstehen, wie diese einst von der Natur geschaffene Lebenslinie die Lage Ägyptens bestimmt. Die Geografie spricht an diesem Ort eine besonders deutliche Sprache und veranschaulicht, wie recht der britische Premierminister Winston Churchill hatte, als er Ägypten vor über fünfzig Jahren mit einem Tiefseetaucher verglich, dessen langer und verwundbarer Atemschlauch dem Nil entspricht.
Erst nachdem der Fluss die Grenzen von neun Ländern passiert sowie drei Klimazonen und über 5000 Kilometer hinter sich gebracht hat, fließt er unter wolkenlosem Himmel nach Ägypten hinein. Diese Verwundbarkeit, die aus der Lage am unteren Ende des Wasserlaufs resultiert, wird in Zukunft noch größere geopolitische Bedeutung erlangen, da sich der Bedarf an Wasser nicht nur in Ägypten, sondern entlang des ganzen Nil erhöhen wird. An nur wenigen Orten wird der Kampf um die Wasserkontrolle solch dramatische Dimensionen annehmen und so viele Länder involvieren wie im Tal dieses Flusses. Zudem wächst die Bevölkerung im Niltalprozentuell schneller als an anderen Orten der Welt: Im Jahr 2025 werden in den Ländern, die der Strom durchfließt, rund 600 Millionen Menschen leben. 37
Dieser Kampf wird auch globale politische Konsequenzen nach sich ziehen. Der längste Fluss der Erde fließt vom Herzen des tropischen Afrika durch die Sahara zum Mittelmeer und durchquert dabei Länder, welche Zentren des Islam und des orthodoxen Christentums sind. Wie bei Ganges, Brahmaputra, Indus oder im Gebiet von Euphrat und Tigris wird die Wasserfrage mit religiösen und kulturellen Konflikten verknüpft sein. Zwar ist der Nil einer der wenigen Wasserläufe, für die Abkommen über die Wasserverteilung existieren, aber diese stellen gleichzeitig ein großes Problem dar, weil viele Staaten am Oberlauf des Flusses sie ändern oder außer Kraft setzen möchten. Im Jahr 1929 ging London ein Abkommen ein, das Ägypten ein Vetorecht gegen Dammprojekte am Oberlauf des Nil einräumte. Damals ging man allerdings davon aus, dass der Wasserbedarf der Kolonialgebiete äußerst marginal sei und keine Bedeutung auf Verteilung und Nutzung des Wassers habe. 1959 einigten sich Ägypten und der Sudan auf ein Abkommen, nach dem das ganze Wasser im Fluss zwischen beiden Ländern aufgeteilt wurde: Ägypten standen jährlich 55,5 Milliarden Kubikmeter zu, während der Sudan 18,5 Millarden Kubikmeter erhielt. Mehr Wasser gibt es auch nicht zu verteilen, da jährlich zehn Milliarden Kubikmeter des künstlich aufgestauten Wassers am Assuan-Damm verdampfen. Die anderen Länder am Wasserlauf des Nil betrachten diese Situation als ungerecht und unhaltbar, und nicht zuletzt fühlen sie sich dadurch provoziert, dass dieses Abkommen den Namen »The Agreement for the Full Utilization of the River Nile« (Vereinbarung über die vollständige Nutzung des Nil) erhielt.
Die Zukunft Ägyptens hängt davon ab, dass der vereinbarte Anteil an Nilwasser das Land auch weiterhin erreicht. Der Nil war und ist das Fundament des Landes und wird es bleiben. Ägypten wünscht sich daher eine Aufrechterhaltung des Status quo, doch selbst das reicht nicht aus: Die Regierung behauptet immer wieder,mehr Wasser zu benötigen, als Ägypten gegenwärtig entnimmt. Die große Frage ist also, ob die Strukturen der Wasserverteilung, die im Nilabkommen von 1959 legalisiert wurden, sowohl kurz- als auch vor allem langfristig Bestand haben werden. Im Zeitalter der
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