Wasser
Niltal von der Ära Königin Victorias bis in die Zeit Königin Elisabeths II. steuerten, waren sich einig: Was die geopolitische Rolle eines Landes in dieser Region ausmacht, ist seine Lage am Wasserlauf des Nil. Diesen beherrschten sie ab Ende des 19. Jahrhunderts von den Quellen bis zur Mündung, bis sie ihren Besitz in der Region in den 1950er/60er Jahren abtreten mussten.
Vom abgesperrten Dach des Hilton-Hotels in Khartoum, das mich ein freundlicher Wachmann betreten lässt, kann ich deutlich sehen, wie sich das Wasser des Blauen Nil, gefärbt vom Schlamm, den er von der äthiopischen Hochgebirgsebene mit sich führt, mit dem Wasser des Weißen Nil, das aus dem Herzen Afrikas stammt, mischt und dann seinen Weg durch eine der heißesten Wüsten der Welt fortsetzt, um schließlich nach Ägypten und bis zum Mittelmeer im Norden zu gelangen. Einige Zeit später befinde ich mich auf einem Flusskahn, und während der Muezzin aus einem blechern klingenden Lautsprecher zum Gebet ruft, bitte ich den Bootsführer, genau über jene Stelle zu fahren, an der die Flüsse aufeinandertreffen, um so ganz buchstäblich den Strom der Geschichte zu kreuzen. Charakter und Wasserlauf der beiden Flüsse hatten große Bedeutung für die Aufteilung Afrikas, die Auflösung des Völkerbundes (1946), die Sueskrise (1956/57) und den Zusammenbruch des europäischen Kolonialismus. 38
Mittlerweile fasziniert es, welch enorme, vor allem durch die Einkünfte aus der Ölförderung finanzierte Entwicklung Sudans Hauptstadt durchläuft. Die Ausländer, auf die man in den schnell wachsenden Einkaufsvierteln trifft, sind nicht wie früher westliche Universitätslehrer oder Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, sondern Techniker aus Malaysia, China und Indien. Aus alter Gewohnheit wohne ich im Hotel »Akropole«, in dem noch alles beim Altenist: Es wird von denselben Griechen betrieben wie vor zwanzig Jahren, als ich zum ersten Mal hier war. Noch immer sieht George jung aus, und noch immer herrscht hier dieselbe Gastfreundschaft. Die Kellner, die in ihren Sandalen langsam über den Fußboden schlurfen, sind genauso freundlich und wirken genauso uralt wie damals. Das Hotel ist seit vielen Jahren der soziale Mittelpunkt der internationalen Berater- und Entwicklungshelferszene. In diesem Haus könnte man den Eindruck gewinnen, dass Khartoum seit Jahrzehnten stillsteht – auch wenn das Internet einwandfrei funktioniert: Auf der Straße herrschen dieselbe Hitze, derselbe Sand und dieselben gelben, ausrangiert wirkenden Taxen. Der auffälligste Unterschied ist, dass ein Teil des Hotels von Islamisten weggesprengt wurde. Doch der Eindruck des ökonomischen Stillstands täuscht gewaltig. Denn ganze Stadtviertel wurden unter Aufsicht des islamistischen Regimes modernisiert, und das Land konnte über mehrere Jahre ein wirtschaftliches Wachstum verzeichnen.
»Unabhängig von der Einstellung des Regimes wird die Elite des Landes danach trachten, ihre aus den 1970er Jahren stammenenden Ambitionen, zur Kornkammer der arabischen Welt zu werden, in die Tat umzusetzen.« Der Professor für Sozialanthropologie, mit dem ich im Schatten eines Baumes auf dem Universitätsgelände stehe, ist sich da völlig sicher.
Soeben habe ich eine Vorlesung über die Geschichte des Nil und die Rolle des Sudan in der Stategie der britischen Außenpolitik der 1950er Jahre gehalten. Jetzt reden wir über die sudanesische Nilstrategie für die kommenden Jahre. Obwohl das Ziel, zur arabischen Kornkammer zu werden, im Augenblick etwas unrealistisch klingt, muss ich meinem Gesprächspartner zustimmen. Denn der Sudan verfügt mit seinen 100 000 Quadratkilometern an fruchtbarem Land über ein ungeheures Potenzial, vorausgesetzt natürlich, dass dieses bewässert wird. Heutzutage werden 16 000 Quadratkilometer Land künstlich mit Wasser versorgt. Der Sudan könnte diese Fläche in kurzer Zeit verdoppeln, wenn er wollte. Das politische und international relevante Problem dabei wäre dann allerdings,dass das Land ungefähr 25 Milliarden Kubikmeter Nilwasser benötigen würde. Und das sind 6,5 Milliarden mehr, als ihm nach dem Abkommen von 1959 zustehen.
Der erste große Schritt in Richtung dieser revolutionären Entwicklung ist bereits getan: Kurz bevor der Nil die ägyptische Grenze erreicht, spannt sich ein neuer Riesendamm quer durch den Fluss. Der Merowe-Damm unterhalb des vierten Nilkataraktes mit seinem zerklüfteten Flussbett wird von der politischen Führung als Zukunft der Nation
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