Wasser
besitzen zwei Kleinbauern hier im Tal einen Stall mit ein paar Kühen und ein wenig Land, und sie haben zugleich Rechte an einem Wasserfall inne, an dem sie jetzt ein Kleinkraftwerk bauen. Mit diesem wollen sie Strom produzieren, der auf dem internationalen Markt verkauft werden soll. Die Bauern, die in dieser Gegend Strom erzeugen, repräsentieren die erste Generation der neuen norwegischen »Stromkraftbauern«.
Während ich das Kraftwerk der beiden Kleinbauern – ein viereckiges graues Ziegelhäuschen, das auf ihrem Grund und Boden steht – in Augenschein nehme, kann ich ihren Pioniergeist und Zukunftsoptimismus gut nachvollziehen. Doch was mag passieren, wenn alle Bauern mit Besitzrechten an Wasserfällen dasselbe machen?
Je öfter ich verreise, desto sicherer bin ich mir, dass es nur wenige Orte gibt, die schöner sind als die skandinavische Regenküste im Frühling. So geht es mir auch dieses Mal, nachdem ich von Ostnorwegen aus über Gebirgspässe gefahren bin, auf denen noch immer meterhohe Schneeverwehungen liegen, obwohl es fastJuni ist, und dann weiter hinunter zum Sognefjord. Die einzigartige Mischung aus ursprünglicher Natur und Kulturlandschaft in Westnorwegen, die in dieser Region zahlreichen Fjorde – die in historisch-geologischer Perspektive dort entstanden, wo einst Flüsse waren – und die Wasserfälle, die von den schneebedeckten Berggipfeln über steile Kämme und sanfte Hügel direkt ins Meer fließen oder in Flüsse und Bäche münden, nachdem sie sich durch eine leuchtend grüne Vegetation gewunden haben, sind schon etwas Besonderes. All das schuf die Grundlage für eine von der UNESCO anerkannte Welterbe-Region – unberührte Natur und ländliche Besiedlung, direkt beieinander gelegen, zwischen Meer und ewig fließendem Süßwasser. Die Kombination aus neuer Technologie und besonderen Eigentumsstrukturen wird die norwegische Wasserlandschaft allerdings verwandeln und dem Kampf für die Umwelt ungekannte Dimensionen verleihen.
Angesichts dieser neuen, aus Kleinkraftwerken bestehenden Einkommensquelle wird die Region ein kulturelles Dilemma bewältigen müssen. Auf der einen Seite haben die meisten kleinen Orte in Westnorwegen eine moderne und geglückte Entwicklung durchlaufen, die an verschiedene Formen der Wassernutzung als Energiequelle gebunden war und ist. Auf der anderen Seite – und in globaler Perspektive – beruhen der besondere Charakter und der Charme der Region darauf, dass Flüsse und Wasserfälle weiter so die Landschaft durchfließen, wie die Natur es vorgegeben hat, also unberührt von Menschenhand und inmitten der Allgemeinheit.
Eine solch unberührte »Wassernatur« – also eine natürliche Wasserlandschaft in einem von Menschen bewohnten Gebiet, doch ohne Kontrolle durch die Gesellschaft wie etwa durch Naturschutzgebiete oder Nationalparks – wird immer seltener werden, wenn in den nächsten Jahrzehnten überall auf der Welt neue, gigantische Wasserprojekte entstehen. Während die Wasserknappheit in anderen Teilen unseres Planeten zunehmend ein Land gegen das andere, eine Region gegen die nächste aufbringt, war die Verteilung des Wassers hier im Großen und Ganzen nie ein Thema. Norwegenverfügt über eine variantenreichere Wasserlandschaft als jedes andere europäische Land. Hier vereinen sich sieben der weltweit höchsten Wasserfälle sowie 3000 Wasserläufe, die fast alle vollständig in den Grenzen des Landes liegen und das ganze Jahr Wasser führen. Norwegen ist also eine Art Dorado des fließenden Wassers.
Wasser ist in allen Gesellschaften gleich wichtig – in Wüstenstaaten genauso wie in niederschlagsreichen Ländern. Die norwegische Geschichte war bereits vom Zusammenspiel mit der besonderen Wasserlandschaft geprägt, als sich die ersten Siedler hier nach der Eisschmelze niederließen. Für die Entwicklung der Gesellschaft im Land war Wasser nicht in Bewässerungskanälen, sondern in Entwässerungsgräben unabdingbar – nur so konnte die norwegische Erde fruchtbar gemacht werden. Das typische Geräusch der Landschaft von zum Beispiel Jæren ist für mich daher nicht der Wind oder eine singende Lerche am Himmel, sondern das rauschende und glucksende Wasser, das in Röhren, Schächten oder Gräben verschwindet, die einst die physische Voraussetzung zur Fruchtbarmachung der Erde von Jæren waren.
Die Flüsse waren vom 16. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts die Verkehrswege und Energiequellen für die wichtigste Handels- und Exportware: Holz. Sie
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