Wasser
dreißig Wasserläufe auszubauen und zu nutzen, um ihre wirtschaftliche Situation zu verbessern.
Aktuelle Schätzungen gehen davon aus, dass bis zu 4600 Klein-, Mini- und Mikrokraftwerke gebaut werden könnten. In den kommenden Jahren werden voraussichtlich 50 Kraftwerke pro Jahr errichtet, und im Laufe einer Generation werden bei gleichbleibendem Interesse und Bautempo bis zu 1500 neue Kraftwerke entstehen. 40 Die Möglichkeit, Kleinkraftwerke zu errichten, hat in zahlreichen landwirtschaftlichen Gebieten zu einer wahren Goldgräberstimmung geführt. Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern in der Welt werden es in Norwegen die kleinen Projekte sein, diedie Wasserlandschaft und die Natur verändern. War der Staat früher führend im Bau von Kraftwerken, übernimmt er heute die – allerdings eingeschränkte – Rolle des Beschützers der Wasserläufe.
Die Lösung des Konflikts zwischen Naturschutz und Wassernutzung wird künftig darüber entscheiden, was von der authentischen Wasserlandschaft Norwegens übrigbleibt.
»Wir machen das für die nächsten Generationen«, sagt der Bauer, und es ist nicht schwer, ihn zu verstehen. Doch für das Land als Ganzes stehen andere Werte als die Wirtschaftlichkeit von Kleinbauern oder die Steuereinkünfte einzelner Kommunen auf dem Spiel. Denn wenn in die Natur erst einmal eingegriffen wurde, kann nichts mehr die Unberührtheit der Wasserläufe wiederherstellen. Die Natürlichkeit der Wasserlandschaft wäre für alle Zeit verloren.
Ich spaziere in den Wald hinein, setze mich ans Ufer eines unberührten Wasserlaufs und lese einen im Jahre 1854 erschienenen Text des amerikanischen Naturalisten Henry David Thoreau: »Ein See ist der schönste und ausdrucksvollste Zug einer Landschaft. Er ist das Auge der Erde. Wer hineinblickt, ermißt an ihm die Tiefe seiner eigenen Natur.« 41
Was wird die norwegische Gesellschaft in ihrer Seele erblicken, wenn die von menschlicher Kontrolle freie Natur des Wassers in zunehmendem Maße dem ökonomischen Wachstum geopfert wird? Denn Flüsse und Wasserläufe, Wasserfälle und Seen beherbergen nicht nur Energie, die abgeschöpft werden kann, sondern sie repräsentieren auch kulturelle und soziale Werte und die Identität von Landschaften.
Der Staat, der den Monsun entmachten will
Mitunter werden Reisende durch Stereotype oder subjektive Erlebnisse getäuscht. Einige Tage lang halte ich mich an den Ufern des Ganges in Varanasi auf, versuche – als totaler Außenseiter – zu begreifen, was um mich herum geschieht und all das, was ich über das Verhältnis des Hinduismus zum Ganges und zu den heiligen Flüssen gelesen habe, damit in Zusammenhang zu bringen. Der berühmte, ungefähr 3000 Jahre alte Sanskrit-Text »Mahabharata« (XII.183) bringt die Bedeutung des Wassers auf den Punkt:
»Wasser ist das Leben aller Wesen, / durch das alle Kreaturen gedeihen, / aber auch vergehen, / wenn sie von ihm verlassen sind« 42 .
Die kulturelle und religiöse Bedeutung der Ghats, dieser einzigartigen Treppenanlagen, die zum Fluss hinabführen, ist augenfällig: Familien, die ihre toten Angehörigen – eine Mutter, einen Vater oder ein Kind – auf Bahren an den Fluss tragen; das Eintauchen der Toten in den Ganges, um ihnen Wasser für die Reise zu geben; das Verbrennen der Leichen, deren Asche dann in den Fluss gestreut wird; die in Meditation versunkenen Sadhus; all die Gläubigen, die inmitten dieses Chaos aus Geräuschen und Gerüchen hochkonzentriert ein Bad im heiligen Fluss nehmen; und all die anderen, die – wie schon Millionen vor ihnen – die Treppen wieder hinaufsteigen, fort vom Fluss und hinein in das Gassengewirr von Varanasi, während sie das heilige Wasser, das sie dem Ganges entnommen haben, mit sich tragen. All das verstehe ich natürlich nicht; an den Ghats vollzieht sich so etwas wie die Huldigung einer mythischen Geografie – die Wahrnehmung eines Landschaftskonzeptes, das die rationale Wissenschaft schlichtweg nicht begreifen kann. Diese Verehrung des Wassers in Varanasi ist die Verkörperung des exotischen Indiens.
Doch dieses bekannte und nach einer Weile aufdringliche Sinnbild eines gleichsam zeitlosen Indiens darf nicht über die rasende Modernisierung hinwegtäuschen, der große Teile des Landes unterworfenwerden. Die ökonomische Entwicklung hat sich überaus rasch vollzogen.
Das Interessante an dieser Modernisierung – nicht zuletzt der Wassersysteme – ist nun, dass dasselbe Wasser, das man der Macht der Ingenieure
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