Wasser
transportierten die Stämme, setzten die Sägen in Bewegung und schufen so die Grundlage für viele Städte am Oslofjord oder kleine Orte in den norwegischen Tälern. Flüsse und Wasserfälle ermöglichten es dem Land gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als die Wasserfälle als »weißes Gold« entdeckt wurden, in die moderne Zeit einzutreten. Plötzlich war Norwegen nicht mehr eines der ärmsten Länder Europas, sondern wurde als eines der ersten Länder der Welt elektrifiziert. Die zahlreichen rotglühenden Industrieorte zu Füßen der Wasserfälle ließen die sozialdemokratische Idee vom Wohlfahrtsstaat Wirklichkeit werden. Doch die Nähe zwischen Natur und Kultur ist noch immer greifbar, etwa im Ort Øvre Årdal nahe dem Kraftwerk Årdal. Unweit der Stelle, an der das aus den Gebirgen und Gletschern kommende Wasser im Kraftwerk Energie erzeugt, kann man an den 275 Meter in dieTiefe stürzenden Vettisfossen herangehen, den ersten norwegischen Wasserfall, der – schon 1924 – unter Naturschutz gestellt wurde und seitdem ungehemmt weiterfließt.
Die Wasserlandschaft hat sich auch auf die sozialen Verhältnisse im Land ausgewirkt. Da es in Norwegen viele Flüsse gibt und außerdem sehr oft regnet, wurde um das Jahr 1830 mit dem Bau von Mühlen begonnen. Ihre Zahl wuchs auf bis zu 30 000 an; zum damaligen Zeitpunkt gab es im Verhältnis zur Einwohnerzahl hier mehr Mühlen als in jedem anderen Land. Viele dieser Mühlen waren einfache Hofmühlen, die den Bauern eine größere Unabhängigkeit von den Behörden verschafften, deren Gunst oder Kontrolle sie sich – wie in anderen Ländern Europas – jedes Mal hatten unterwerfen müssen, wenn Korn gemahlen werden sollte.
Tausende kleine und große Kraftwerke in kommunalem Besitz haben den Gemeinden Macht und ökonomisches Gewicht gegenüber dem Staat verliehen, insbesondere in einer Periode, in der die Energieproduktion als Motor der Wirtschaft fungierte.
Weil das Wasser in Norwegen überall fließt, hat es niemals Bedarf an großen Projekten zur Verlegung von Flüssen gegeben. Auch so ist das Land einer der weltweit größten Wasserkrafterzeuger (zwischen 90 und 150 Terrawattstunden pro Jahr). Dennoch ist die Zeit der großen Wasserkraftprojekte vorbei; sie gehören der Vergangenheit an und werden vom Staat künftig nicht mehr forciert.
Fast 400 Wasserläufe sind qua Gesetz vor größeren menschlichen Eingriffen geschützt; lokale Bauern, die Wasserfälle besitzen, werden in Zusammenarbeit mit Energiebetrieben die Zukunft prägen. Nicht mehr gigantische Projekte, sondern Kleinkraftwerke sind angesagt. Dieser Umstand ist vielleicht einer nationalen Besonderheit geschuldet: In Norwegen ist Wasser Privateigentum – undenkbar in vielen anderen Ländern, in denen Wasser dem Staat, Gott oder Allah gehört.
»Besitzen Sie einen Fluss? Dann rufen sie 03870 an!« steht auf einem Plakat der Firma Norges Småkraftverk AS (Norwegische Kleinkraftwerke AG). Welche Folgen mag es haben, wenn alle,die diese Anzeige sehen und tatsächlich einen Fluss besitzen, diesen auch ausbauen und nutzen wollen? Ich bin in ganz Norwegen umhergereist, von Kirkenes und Hammerfest nach Lindesnes, von den Wäldern in der nordnorwegischen Provinz Finnmark bis in die urbanen Gebiete. Überall fließen kleine Bäche, bescheidene Flüsse, ein Wasserfall stürzt von einem Felsvorsprung herab – und alle unterscheiden sich voneinander, sind geprägt von ihrer besonderen Schönheit, eingebettet in ihre Landschaft und durchwoben von Licht. Diese Wasserlandschaft könnte nun durch Kleinkraftwerke in vielerlei Hinsicht verändert werden. Schon bald wird womöglich das typische Geräusch des glucksenden oder fließenden Wassers an vielen Orten vom monotonen Gebrumm eines kleinen Kraftwerkes abgelöst werden, wenn das Potenzial vollends ausgenutzt wird. Früher waren nur Wasserkraftwerke mit einer Leistung von unter einem Megawatt (MW) von besonderen Naturschutzregelungen ausgenommen, doch mittlerweile liegt diese Grenze bei zehn MW, so dass alle Kleinkraftwerke unter diese Ausnahmeregel fallen. Das bedeutet, dass Mini- und Mikrokraftwerke auch an besonders geschützten Wasserläufen installiert werden dürfen, wobei das Beantragungsverfahren und die Bearbeitungsfrist vereinfacht beziehungsweise verkürzt wurden. Auch die Besitzer größerer Land- oder Waldgebiete werden in dieser Hinsicht wirtschaftliches Interesse entwickeln. Die norwegische Kirche beispielsweise, die viel Land besitzt, erwägt, bis zu
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