Wasser
Nachbarn Indien überhaupt informiert? Zumindest ist offiziell nichts berichtet worden. Und die indische Regierung wird es vorziehen, keinen Kommentar abzugeben, weil dies die schwache, stromabwärts gelegene Position des Landes unterstreichen würde. Zwischen Indien und China gibt es keinerlei Abkommen über die gemeinsame Nutzung des Wassers, obwohl fast alle Ströme, von denen Indien abhängt, aus dem großen Nachbarland China bzw. aus Tibet kommen. China hegt große Pläne zur Nutzung des Wassers in Tibet, und die Eroberung der tibetischen Wasserlandschaft hat bereits begonnen.
Ich verlasse Lhasa und komme nach einer mehrstündigen Autofahrt zum Hochgebirgspass. Nachdem der Fahrer uns mit sicherer Hand durch eine unendliche Zahl von Haarnadelkurven manövriert hat, erreichen wir den Yamthog Yumco. Der in fast 4500 Metern Höhe liegende, von grasbewachsenen Hügeln und schneebedeckten Bergen umgebene See leuchtet in einem einzigartigen und geradezu unnatürlichen Türkis. Jeden Sommer kommen Scharen von Pilgern hierher, um zu beten und ihren Segen zu empfangen. Sie glauben, das Wasser im See mache Alte wieder jung und lasse Kinder klug werden. Für sie beherbergt dieses Gewässer dieeigentliche Lebenskraft der tibetischen Nation. So wie viele Exiltibeter heute sind tibetische Nationalisten der Auffassung, dass der See beschützt werden müsse, um die Nation zu behüten. Bis 1950 war es üblich, dass die politischen Führer Tibets hierher kamen und dem See Opfergaben darbrachten. Mittlerweile haben die Chinesen begonnen, den See als Wasserkraftquelle zu nutzen. Da der Yamthog Yumco keinen Ablauf hat, ist ein Staudamm nicht erforderlich; stattdessen wird das Wasser zehn Meter unter der Oberfläche in Tunnel gepumpt, durch Turbinen geleitet und dann hinunter zum Brahmaputra geführt. Das Projekt ist eine der zahlreichen Maßnahmen, die verdeutlichen, dass die Chinesen die Nutzung der regionalen Wasserressourcen mit Nachdruck verfolgen. Einige der großen staatlichen Energieunternehmen haben mit der autonomen tibetischen Regionalregierung Abkommen über den Bau umfangreicher Wasserkraftanlagen geschlossen, gehen vorläufig allerdings noch behutsam vor, weil der lokale Bedarf an Energie eher gering ist. Nicht zuletzt viele Exiltibeter behaupten, dass die Errichtung von Dämmen in Tibet aufgrund des empfindlichen ökologischen Gleichgewichts sehr riskant sei, und haben die chinesische Regierung bereits des »Ökomords« beschuldigt. Die politische Führung Chinas hingegen betont, mit dem Vorhaben zur Modernisierung und Entwicklung Tibets beizutragen.
Im Gegensatz zu dem allgemein dichtbesiedelten Wasserlauf des Brahmaputra, an dem 600 Millionen Menschen leben, liegen die Orte im tibetischen Brahmaputratal nordwestlich von Lhasa eher weit auseinander. Der Himmel ist hier von einem milchigen Blau überzogen, und die Wolken sehen insbesondere an den Rändern sehr eigenartig aus, weil das in ihnen befindliche Regenwasser in der Atmosphäre verdunstet.
Wir halten vor einer über den Fluss gespannten Hängebrücke an, die im Nachmittagswind leicht schwankt und dicht an dicht mit traditionellen bunten Gebetsfahnen geschmückt ist. Auch der mich begleitende Beamte vom chinesischen Außenministerium scheint endlich aufzutauen und muss ein paar Fotos schießen. »Unser Flusssieht klein, aber schön aus, finden Sie nicht?« Im Gegenlicht wirkt der Fluss wie vergoldet und erinnert tatsächlich an einen kräftigen Strom aus lebensspendendem Wasser, während er rasch den trockenen Ebenen des indischen Subkontinents entgegenfließt. Der Brahmaputra – oder Tsangpo, der »Reinigende«, wie er hier heißt – ist einer der vielen Flüsse, die die tibetische Hochebene durchqueren. Die ländlich-friedliche Stimmung dieser Einöde kontrastiert stark mit der Tatsache, dass der Fluss weltpolitisch bedeutsam ist und viel Konfliktpotenzial in sich trägt.
Der Brahmaputra – oder »Brahmas Sohn«, wie der Fluss in Indien genannt wird, um seine religiöse, kulturelle und ökonomische Bedeutung zu unterstreichen – fließt über 1000 Kilometer durch Tibet, bevor er den indischen Bundesstaat Arunachal Pradesh erreicht, um von dort eine ebenso lange Strecke durch Indien zurückzulegen, bis er nach Bangladesch gelangt. Die Wassermenge stammt überwiegend aus den im Zentrum der Hochebene gelegenen Gletschern sowie dem Niederschlag in den nördlichen Landesteilen Indiens und Bangladeschs.
Bislang gab es für die stromabwärts befindlichen
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