Wasser
Europa. »Der goldene Wasserweg«, den die Chinesen seit Urzeiten besungen, geachtet und gefürchtet haben, verschwindet – als Fluss – endgültig und soll zu einem kontrollierbaren Kanal umgestaltet werden.
In einer kalten Januarnacht fahre ich auf einem Schiff von Yichang den Jangtse hinauf, und während ich, in dicke Wollsachen eingepackt, einzuschlafen versuche, muss ich an das Gedicht denken, das Mao Zedong hier schrieb, nachdem er 1956 die erste seiner berühmt gewordenen Schwimmtouren unternommen hatte: »Eine Brücke überspanne im Fluge Norden und Süden, / daß aus der Himmelsschranke ein Verkehrsweg werde. / Und weiter große Staudämme am Oberlauf des Jangtse, / die Wolken und Regen des Wu Shan scheiden, / ein Stausee träte dann in hohen Schluchten hervor. / Die Göttin, wohl bei Gesundheit, / erstaunte sicher über den Wandel der Welt.« 75 Die Stauung des Jangtse erhielt unter anderemdurch dieses Gedicht grünes Licht. Die Führung der Kommunistischen Partei beschloss, den größten Damm der Welt in den drittgrößten Fluss der Erde zu bauen: den Drei-Schluchten-Damm, der 2008 vollendet wurde. Der erste moderne politische Führer Chinas, Sun Yat-sen, hatte bereits in den 1920er Jahren den Bau eines solchen, wenngleich kleineren, Sperrwerkes vorgeschlagen. Die Flussufer – gesäumt von historischen Denkmälern, die vom kriegerischen Kampf um die Kontrolle des Jangtse zeugen – werden unter Wasser gesetzt, darunter auch die »Eisenpforte«, die bereits während der Song-Dynastie (960–1279) den Fluss überquerte. Zwei Meter hohe Eisenpfosten und sieben 250 Meter lange Ketten erlaubten es jahrhundertelang, alle Militärtransporte zu kontrollieren und einen Großteil des Handels in Zentralchina zu besteuern. Auch die Stromschnellen, in denen noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts jedes zwanzigste Schiffen versank, verschwinden. Auf schmalen Pfaden in den Berghängen balancierende Treidler zogen Dschunken durch das Wasser. Schamanen schwangen rhythmisch gelbe Fahnen, auf denen »Macht des Wassers« geschrieben stand, während zur Besänftigung der Drachen und Geister Reis ins Wasser geworfern wurde. All das ist nun Geschichte und versinkt im Wasser hinter dem neuen Damm.
Als ich während der Bauphase in einem Schnellboot den Jangtse weiter gen Norden hinauffahre und dabei Hühnchen mit Reis von Plastiktellern esse, die hinterher einfach über Bord geworfen werden, blicken die chinesischen Passagiere auf Städte und Flussufer, die definitiv veschwinden werden, und beobachten skeptisch die sich nähernde, riesige Baustelle: einen technologischen Ameisenhaufen mit Bulldozern, Lastwagen, Kränen und Betonmischmaschinen. Drücken diese Blicke eine Mischung aus Trauer und Fortschrittsoptimismus aus? Ist der Damm ein Extrembeispiel für den menschlichen Größenwahn gegenüber der Natur, oder repräsentiert er des Menschen endgültigen Sieg über den Fluss mit einem Monument, das Zeugnis von der Macht der modernen Technologie ablegt? Wird der Damm verhindern, dass sich Katastrophen wiejene im Jahre 1954 wiederholen, als 30 000 Menschen durch die Flut starben und riesige Landwirtschaftsflächen zerstört wurden? Fachleute halten den Schlamm für das Krebsgeschwür des Projektes, denn was wird geschehen, wenn sich jedes Jahr 680 Millionen Tonnen Schlamm auf dem Flussgrund vor der Staumauer ablagern? Wird dadurch der Strom oberhalb des Dammes langfristig unbefahrbar, weil sich der Schlamm auch dort unaufhaltsam anhäuft? Und wird der Staudamm einer Jahrtausendflut widerstehen können?
Schon immer hat der chinesische Staat durch Kontrolle von Flüssen seine Macht ausgeweitet. Vielen gilt der Drei-SchluchtenStaudamm als Ausdruck dieser Tradition. Bereits 250 Jahre v. Chr. bauten die Chinesen den ersten großen Staudamm der Welt. Das Dujiangyan-Projekt in der Provinz Sichuan existiert mit seinem Damm und Kanalsystem noch heute an einem Nebenfluss des Jangtse und ist nach einigen Modernisierungen weiterhin in Betrieb. Etwas weiter flussabwärts thront, einer buddhistischen Pagode ähnelnd, ein Tempel am Flussufer, der zu Ehren des Gouverneurs Li Bing errichtet wurde, der einst das Bewässerungssystem erbauen ließ. Nach der Legende, die man auf einem kleinen Schild nachlesen kann, soll der Tempel dort stehen, wo Li Bing den »Drachen im Fluss niederwarf«. Ungeachtet dessen erlangte das Flussmanagement erst in unserer Zeit, nach Gründung der Volksrepublik China, seine größte Ausprägung. Mittlerweile sind 90 000
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