Wasser
natürlichen Fließrichtung von West nach Ost widerspricht. Das Wasser, das sich durch die schnurgeraden Kanäle bewegt, unterliegtnicht mehr den Kräften des Drachens, die in vielen Erzählungen der chinesischen Mythologie erwähnt werden und über tausende Jahre hinweg gefürchtet wurden. Das Wasser des Jangtse wird die Nordchinesische Ebene nur noch mit der Stärke eines bis zur Unkenntlichkeit gezähmten Flussgottes durchqueren. Bei vollem Bewusstsein für die historische Symbolik wurde daher entschieden, dass der in das Zentrum der Macht – die Hauptstadt – führende Kanal am kaiserlichen Sommerpalast enden solle. Fast alle, mit denen ich darüber spreche, sind anfangs derselben Meinung: Im Süden gibt es viel Wasser, im Norden wenig. Das Wasser müsse also um jeden Preis umgeleitet werden, denn dies allein sei der Schlüssel für Chinas künftige Entwicklung. Doch bald gab es auch kritische Stimmen. Der Bau des am weitesten im Westen liegenden Kanals wurde mittlerweile auf Eis gelegt, weil sich regionale Interessengruppen vehement dagegen ausgesprochen haben, Wasser aus dem Jangtse gegen seinen natürlichen Lauf Richtung Norden umzuleiten.
Das Kanalprojekt soll eigentlich auch den zweitgrößten Strom des Landes, den Gelben Fluss, vor einer Überstrapazierung schützen. Der große Fluss erreicht heute immer seltener das Meer. Austrocknung, Verschlammung und übermäßige Nutzung sind die Ursachen.
Als ich vor einigen Jahren zum letzten Mal am Gelben Fluss war, strömte ein mächtiges Gewässer an mir vorbei, doch heute sind große Teile des Flussbetts so trocken, dass sie fast einer Wüste ähneln. Nur selten habe ich die Folgen der Modernisierung so hautnah erlebt wie in dem Augenblick, als ich mir im Flussbett eines der größten Ströme der Erde trockenen Sand durch die Finger rieseln lasse. Der mächtige Gelbe Fluss, der sein Wasser über tausende von Jahren in den Indischen Ozean ergoss, gerät mehr und mehr in Gefahr, zu einem Binnenfluss zu werden.
Deshalb haben die Chinesen einen Hundertjahresplan für den Fluss erarbeitet. Schon jetzt werden Sand und Schlamm aus ihm herausgewaschen. Während ich an ihm entlangfahre, sehe ich den Fluss sich zwischen terassenförmigen Hügeln aus lockerer Erdehindurchschlängeln. Er ähnelt dabei keineswegs einem klaren blauen Gebirgsbach, sondern bewegt sich als braune Flut fort – an einigen Stellen führt er sieben Teile Sand und nur drei Teile Wasser. So wird schnell deutlich, dass es besonderer Maßnahmen bedarf, um den Fluss unter Kontrolle zu bringen. Baute man aus dem Schlamm, den der Strom innerhalb eines einzigen Jahres mit sich führt, einen Turm von zwei Metern Durchmesser, so würde er den Mond erreichen, wie mir erzählt wurde. Geplant ist nun, Wasser aus Reservoiren mit hoher Geschwindigkeit in den Fluss zu leiten, damit der dabei entstehende kräftige Strom den tonnenweise abgelagerten Sand in Richtung Meer befördert. So soll unter anderem das Wasser aus dem Jangtse den Gelben Fluss retten und ihn »gesunden« lassen.
»Ganz offensichtlich bringt es etwas, auf Wolken zu schießen.« Der Forscher am zentralen chinesischen Institut für Wettermodifizierung hegt keine Zweifel, und auch seine Kollegen nicken zustimmend. Sie geben mir Material, das auf Forschungsberichte verweist, und händigen mir eine DVD aus, die zeigt, wie das Ganze durchgeführt wird. Während einst vermutet wurde, chinesische Kaiser könnten kraft ihres Willens Regen herbeirufen, hat die chinesische Regierung heute ein umfangreiches Programm zur Wettermodifizierung begonnen und hält 37 000 Soldaten in »Wetterkampfbereitschaft«. Die Angehörigen des zuständigen Instituts sind sich ihrer Sache vollkommen sicher, und ich bin höchst erstaunt von dem festen Glaubens an solche Projekte. Gleichwohl sind sich alle einig, dass dieses Projekt nur eine von vielen Maßnahmen sein kann, um das chinesische Wasserproblem zu lösen.
Die Hauptstadt braucht wesentlich mehr Wasser, als sie innerhalb eines Jahres selbst mit überdurchschnittlichem Niederschlag zu generieren vermag. Laut Aussage der Behörden steht den Bürgern Pekings nur ein Achtel des Wassers zur Verfügung, das jeder Chinese im Landesdurchschnitt verwenden kann, und lediglich ein Dreißigstel dessen, was im weltweiten Vergleich für jeden Bürgervorhanden ist. 78 Seit Beginn der 1990er Jahre ist der Grundwasserspiegel pro Jahr um mehr als einen Meter gesunken. Der Inhalt der Wasserreservoire hat sich dramatisch vermindert
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