Wasser
Betrieb ist und sich über 1800 Kilometer von Nord nach Süd zieht, lässt sich seine politische und ökonomische Bedeutung nur allzu gut verstehen.
Als wolle er die Wasser-Kontinuität in der Geschichte Chinas unterstreichen, hat der chinesische Staat Teile des 2000 Jahre alten Kaiserkanals in ein neues Kanalprojekt integriert, bei dem dasWasser auf einer Gesamtstrecke von mehreren tausend Kilometern durch drei große künstliche Flüsse fließen soll. Diese neuen Wasserläufe – im Osten, in der Mitte des Landes sowie am Rande des Himalaja gelegen – sollen fünf Prozent des Wassers aus dem Jangtse in Richtung Norden leiten. Dies entspricht 40 Milliarden Kubikmeter Wasser pro Jahr oder der Menge Wasser, die acht Flüsse von der Größe der Themse führen. Dabei sollen hunderte Pumpstationen, riesige Staudämme sowie lange Tunnel, die unter der Erde und unter anderen Flüssen verlaufen, Wasser aus dem Jangtse fortleiten, diesem Fluss, der fast 1000 Milliarden Kubikmeter Wasser pro Jahr – zehn Mal mehr als der Nil – mit sich führt.
Der neue Kanal, der schon heute einen Teil der östlichen Route des neu geplanten, dreiteiligen Kanalsystems darstellt, ähnelt äußerlich vielen anderen chinesischen Kanälen. Doch trotz seines gewöhnlichen Aussehens wird mir bewusst, dass ich jeden meiner Schritte an seinem Ufer an einem der wenigen Orte gehe, die langfristig globale Bedeutung erlangen werden – durch die Verbindung des neuen Kanals mit dem Jangtse.
An der Baugrube dieses neuen Kanals, noch einige hundert Meter vom Jangtse entfernt, liegt eine riesige Pumpstation. Diese Kathedrale des Wassermanagements wird Wasser auf eine höhere Ebene pumpen, um es dann auf den Weg in die 1800 Kilometer entfernte Hauptstadt zu leiten. Die Betriebshalle ist ein architektonisches Meisterwerk. Durch große Fenster strömt Licht herein, rückt die lange Reihe mit riesigen Pumpen in den Mittelpunkt und unterstreicht so den Charakter des Ortes.
Das Projekt stellt in jedweder Hinsicht alle Bauten und Planungen des Westens in den Schatten. Jiao Yong, der stellvertretende Minister für Wasserressourcen in China, mit dem ich in Peking sprach, sagte dazu: » Ja, es ist sehr, sehr groß. Es wird halb China umfassen.« 76 Das Projekt soll sowohl die Landwirtschaft der Nordchinesischen Ebene retten als auch die gesamte landwirtschaftlich genutzte Fläche Chinas um eine Million Quadratkilometer erweitern. Darüber hinaus soll es einhundert Großstädte mit Wasser versorgenund das industrielle Wachstum fördern. Und schließlich hat das Projekt eine weitere, nicht weniger spektakuläre Aufgabe: die Rettung der Hauptstadt Peking.
Eine Zugfahrt über die Nordchinesische Ebene ist ein eher monotones Erlebnis. Städte, Dörfer, Fabriken und riesige Landwirtschaftsflächen lösen einander in einem endlosen Strom ab. Vom Zugfenster aus hat man keineswegs den Eindruck, dass hier fast eine halbe Milliarde Menschen leben oder die Hälfte des chinesischen Getreides angebaut wird. Doch das hat auch viele Konsequenzen: Innerhalb der letzten Jahrzehnte ist der hiesige Grundwasserspiegel um teilweise bis zu 30 Meter abgesunken.
»Du und dein Ruhm werden eines Tages verschwinden, die Flüsse jedoch fließen für alle Zeit.« Während ich vom Zugfenster aus die Silhouetten der großen Fabriken und die ausgetrockneten Flussläufe betrachte, murmle ich diese von einem Dichter während der chinesischen Tang-Dynastie geschriebenen Verse halblaut vor mich hin. Wie falsch klingen sie heute, da 300 Flüsse der Nordchinesischen Ebene ausgetrocknet sind oder offenen Kloaken ähneln. Es wurde mittlerweile sogar bekannt, dass die CIA die Lage in Nordchina wegen der katastrophalen Wassersituation genauso gründlich beobachtet wie einst Truppenverlagerungen in der Sowjetunion. Denn wenn China nur zehn Prozent seines Getreides importieren muss, werden 20 Prozent des weltweit verfügbaren Getreides aufgekauft. Steigende Getreidepreise könnten dann die politische Stabilität in vielen Ländern der Erde gefährden. Die Chinesen hoffen nun, dass Produktivität und Wohlstand in der nördlichen Ebene durch die neuen Flüsse gesichert werden können.
Wenn ich an den Kanälen entlangreise, die die Chinesen in hohem Tempo vom Jangtse nach Peking bauen, werde ich Zeuge eines der ambitioniertesten und umfassendsten Versuche, den Lauf des Wassers nach menschlichem Willen umzugestalten. 77 Das dem Jangtse entnommene Wasser wird von Süd nach Nord geleitet, was der
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