Wassermusik
offenbar komisch, und ein nervöses Kichern pflanzt sich durch ihre Reihen fort.
«Ihr armen Sünder», beginnt der Kaplan, «senkt nun eure Köpfe und bittet Unsern Herrn Jesus Christus um Vergebung. Bald werdet ihr vors Gericht eures Schöpfers treten, um dort für all eure Taten im Leben Rechenschaft abzulegen und für alle Sünden, die ihr gegen Ihn begangen habt, ewige Qualen zu leiden, wenn Er nicht angesichts eurer aufrichtigen, von Herzen kommenden Reue Gnade walten läßt –»
Auf Ned verschwendet der Kaplan seine Worte. Sie sind nichts als Hintergrundgeräusche, die sein Leben noch für einen wertvollen Moment verlängern; ja, er hört sie gar nicht. Auch von der Menge dort unten hat er kein klares Bild. Er erkennt nicht Banks, weder Mendoza noch Smirke, nicht einmal Billy Boyles oder den Diener von Adonais Brooks oder die alte Vettel, die ihn verfolgt, seit er auf einem kalten Strohlager den ersten Atemzug getan hat. Er blickt zurück auf seine Spuren im Schnee, auf den letzten physischen Beweis seiner gewollten Existenz, der bereits langsam mit frischem weißem Pulverschnee zugedeckt wird.
«– durch die Wundertaten und den Tod und die Passion Jesu Christi –»
Ned schließt die Augen, ringt um Selbstbeherrschung. Er denkt an Fanny, an Barrenboyne, an die Klarinette. Musik, Farbe, Bewegung. Daran, wegzurennen, seine Fesseln zu sprengen, auf ein Pferd zu springen und die Straße hinunterzupreschen, den Wind in den Haaren …
«– der Herr erbarme sich eurer, erbarme sich eurer armen Seelen.»
… aber wo ist er jetzt? Sie haben das Pferd niedergeschossen, ihre Hände krallen sich um seine Kehle, aber Boyles – ja, Boyles – feuert in die Menge, und Ned kommt wieder hoch, seine Beine strampeln, er wird hinauf- und hinweggetragen von den düsteren Mauern Newgates und dem Schatten des Galgens …
Doch Ned Rise rennt nicht mehr. Er hängt. Würgt an seinem Mageninhalt, der in ihm aufsteigt, am Kehlkopf steckenbleibt und zurückrutscht, um ihm die Lungen zusammenzuschnüren. An seinen Beinen unter ihm baumelt Billy Boyles kläglich und nutzlos, schreit wie ein Baby, während irgendwo zur Linken der Liliputaner aufbrüllt: «Scheiß doch auf die Jungfrau Maria!» Und dann senkt sich die stille Nacht über ihn.
WASSERMUSIK
Weihnachten 1797.
Es war ein Jahr der Siege und der Niederlagen, der kühnen Offensiven und der rechtzeitigen Rückzüge. So überrannte Napoleon die Österreicher und annektierte den Großteil Italiens, während Walter Scott bei Williamina Belches das Handtuch warf und gleich im Gegenzug mit Margaret Charpentier hochzeitete. In Hampshire hat Jane Austen, enttäuscht vom Mißerfolg ihrer
Ersten Eindrücke
(ob sie wohl den Titel ändern sollte?), den Schauerroman
Die Abtei von Northanger
hervorgebracht und daneben eine kleine didaktische Romanze mit dem vorläufigen Titel
Eleonore und Marianne
begonnen. Horatio Nelson wurde für seine Rolle bei der Zerschlagung der spanischen Flotte vor Kap St. Vincent geadelt und zum Admiral befördert, und John Wilkes, der Feuerschlucker in der Politik, erliegt der Last dieser Welt und wird in den nächsten vierundzwanzig Stunden tot sein. Die Holländer konnten daran gehindertwerden, mit französischen Truppen in Irland zu landen, aber die Iren rebellieren trotzdem, und William Pitt der Jüngere, der verzweifelt die Vereinigung von England und Irland herbeiwünscht, erregt den Zorn seines Monarchen über die Frage der Gleichstellung der Katholiken dort. Währenddessen stellen Coleridge und Wordsworth in aller Stille ein Buch zusammen, das dem Neoklassizismus ebenso selbstverständlich das Rückgrat brechen wird, wie ein Feinschmecker ein Baguette aufbricht.
Doch trotz der chaotischen Zeiten ist die Haute-volée heute abend in Covent Garden versammelt, um beim Weihnachtskonzert einer Auswahl aus Händels Messias zu lauschen. Draußen liegt eine dicke Schneeschicht auf dem Kopfsteinpflaster, in den Kloakenrinnen, auf den Ästen der Bäume; drinnen baden die Vornehmen Londons im Glanz ihrer strahlenden Gesichter. König Georg ist natürlich da, begleitet von seiner Frau Charlotte und ihren Töchtern. Er sieht in letzter Zeit nicht allzu gut aus, und seine Minister befürchten, daß er erneut dem Wahnsinn zum Opfer fallen könnte, der ihn schon ’88 außer Gefecht gesetzt hat (ein Wahnsinn, der ihn einmal sogar dazu brachte, den Prince of Wales wegen der Frage der Thronfolge fast zu erwürgen). In einer anderen Loge sitzt
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