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Wassermusik

Wassermusik

Titel: Wassermusik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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der Innenseite seiner Lider spielen Kinder, steht ein Steinhaus, Ailie an der Tür – aber dann wird er von einer mißtönenden Kakophonie abrupt in die Wirklichkeit zurückgerissen, es entsteht Unruhe in der ersten Reihe, jemand   … jemand schreit die Solistin nieder!
    Es ist der König, der aufgestanden ist und wie ein Trunkenbold im Wirtshaus den Namen einer Komposition brüllt. Das Publikum ist erstarrt; die mutige kleine Altsängerin stockt kurz, fährt dann aber fort, und ihre helle Stimme erklingt zusammen mit den groben, beharrlichen Rufen des Königs. Seine Hoheit scheint ein früheres Stück zu fordern, ein Lieblingswerk seines Urgroßvaters, und nun ist die Königin auf den Beinen, zerrt ihn am Ärmel, und Pitt läuft den Gang entlang, das Orchester verliert an Schwung, während der rotgesichtige Mann mit der silbernen Perücke immer wieder schreit: «Wassermusik, Wassermusik, Wassermusik!»

Zweiter Teil
DER YARROW
    «What’s Yarrow but a river bare,
    That glides the dark hills under?
    There are a thousand such elsewhere
    As worthy of your wonder.»
     
    WILLIAM WORDSWORTH
    «Yarrow Unvisited»

LAZARUS
    Während er sich den Weg durch die Schneewehen auf den Stufen von St.   Bartholomew’s Hospital bahnt, murmelt Dr.   D.   W.   Delp finster vor sich hin, und er ist wirklich nicht in der Stimmung für irgendwelche Wunder. Wäre ein Wunder des Weges gekommen und hätte ihn geohrfeigt, als er eben über seinem kleinen Bier und den Keksen saß, er hätte es höchstwahrscheinlich angebrüllt und dahin zurückgejagt, wo es hingehörte, und falls er erbost genug gewesen wäre, ihm auf lateinisch einen kleinen Vortrag über die empirische Unmöglichkeit seiner Existenz gehalten. Er hat schlechte Laune heute morgen, verdammt miese Laune, weil er sich fürchterlich über etwas ärgert, das er als politischen Fehler ansieht – oder vielmehr als Fehler der unglaublich folgewidrigen, unlogischen Rechtsprechung, auf der die Politik beruht. Allein der Gedanke, zu Weihnachten jemanden zu hängen! Schockierend. Barbarisch. Schlimmer noch: unüberlegt. Wütend greift er nach dem Eisengeländer, verfehlt es, rutscht mit dem linken Fuß auf einer gefrorenen Pfütze aus und fällt fluchend und krachend die Krankenhaustreppe hinunter.
    «Wo zum Teufel ist der verdammte Portier?» brüllt er, als er durch die Eingangstür poltert, daß die Schwestern ihre Häubchen verlieren. «Zahlen wir dem fünf Shillings die Woche, damit er hier das Eis abkratzt oder nicht? Wo ist der überhaupt? Hängt vor dem Kamin rum und wärmt sich den faulen Arsch, was? Nuckelt an seinem Bier, was?»
    Der Portier wirft einen dümmlichen Blick aus seinem Besenschrank, während die Patienten mit ihren Nachtmützen,Beinschienen und gelbverfärbten Bandagen beim Ausbruch des Arztes in sich zusammenschrumpfen. Delp steht einen Moment lang reglos, immer noch mit Überzieher, Schal und Zylinder angetan, und knurrt etwas in seinen Schnurrbart. Und dann ruft der ältliche Patient mit dem verkümmerten Bein und den vom Star getrübten Augen: «Herr Doktor, meine Lunge – meine Lunge is so verstopft, daß ich gar nich mehr weiß, bin ich nu tot oder lebendich.»
    Das reicht schon: der Bann ist gebrochen, das Sargtuch hebt sich. Wie Bittsteller vor dem Orakel drängen sie sich um ihn mit ihren arthritischen Händen und den gichtigen Beinen und jammern
Doktor, Doktor, Doktor.
    Aber Delp hat für sie weder Zeit noch Muße. Er bahnt sich den Weg durch das Gedränge, seine langen Beine schreiten ungeduldig aus, und er gelangt in den Korridor zu seinem Arbeitsraum. Nein, Verstauchung, Rheumatismus oder Gicht haben ihn heute gewiß nicht extra aus den Federn geholt. Schwärende Wunden und multiple Frakturen gehören hier zum Alltäglichen, Gewöhnlichen – deswegen hätte er bestimmt nicht auf den Ausflug nach Bath am Tag nach Weihnachten verzichtet, auf die lange geplante Reise, wo er seinen Sohn in den Semesterferien und seine samt all ihren Koffern und Taschen aus Miss Creamers Internat zurückgekehrte Tochter getroffen hätte. O nein. Wenn an einem solchen Tag Delp etwas ins Krankenhaus zog, dann war es nur der wissenschaftliche Eifer – sein verzehrender Forscherdrang, die einmalige Gelegenheit, die Grenzen des anatomischen Wissens auszudehnen, die Möglichkeit, zwei am Vortag dem Henker entrissene Leichen im Rahmen einer Lehrstunde zu sezieren.
    Vor der Büste des Vesalius bleibt der Arzt kurz stehen, tut einen langen resignierten Seufzer, und

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