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Wassermusik

Wassermusik

Titel: Wassermusik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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in den letzten Minuten ruhelos in der Zelle umher. Es ist der Morgen des Weihnachtstages, der Nieselregen wird zu Schnee. Am Vorabend war Boyles noch da, um ihm die letzte Ehre zu erweisen, voll wie ein Amtmann. Mit zitterndem Bariton hat er ein paar trübselige irische Lieder zum besten gegeben, Neds Hand ergriffen und ihm gesagt, er hoffe, ihn in einer besseren Welt wiederzusehen, und dann ist er in der Ecke eingeschlafen. Und Fanny war auch dagewesen – für ein letztes Lebewohl. Blaue Flecken wie vergorene Pflaumen säumten ihre Schenkel, wundgescheuerte Stellen nagten an ihren Handgelenken. Hinter dem Ohr hatte sie eine Tätowierung (eine Seeräuberflagge in Grün), auf dem Backenknochen eine frische Wunde. und ihr Hinterteil war vom Abdruck menschlicher Zähne gezeichnet. Sie sah mitgenommen aus. Ned war das alles inzwischen egal. Mit aller Verzweiflung des dem Untergang Geweihten warf er sich auf sie, jede seiner Körperzellen schrie nach Überleben, nach der Hochzeit von Spermium und Ei, nach der süßen posthumen Inkubationdes Lebens. Sie verließ ihn im Morgengrauen, das Gesicht geschwollen vor Verzweiflung.
    Viertel vor sieben. Noch fünfzehn Minuten. Er raucht die dreißigste Pfeife – die Panik pocht an seinen Rippen, seine Hände zittern   –, nimmt noch einen Schluck aus der Ginflasche, die Boyles ihm dagelassen hat, und bückt sich, um ein Staubkorn von den Schuhen zu wischen. Draußen auf dem Hof haben andere Häftlinge Freigang, ihre zusammengedrängten Gestalten pressen sich an die Mauern und versammeln sich in den Ecken wie Verschwörer. Ein Schwein haben die, denkt er, und wird von einer Welle des Selbstmitleids übermannt. Absurderweise pulsiert in ihm die Melodie eines Weihnachtslieds – «Alles still, einsam wacht»   –, und obwohl er die Pulle fast leer gemacht hat, fühlt er sich auf einmal stocknüchtern wie   … wie ein Strafrichter. Bei dem Gedanken muß er lachen, ein dröhnendes Lachen aus dem Bauch, das irgendwie außer Kontrolle gerät und zu einem Kreischen ausufert, zum wahnsinnigen, grauenhaften Jaulen eines in der Falle gefangenen Tieres. «Aaa-aaah-aaaaah», schreit er, «Aaa-aaah-aaaaaaah!» Aber was ist das jetzt? Schritte?
    Sie kommen ihn holen.
    Auf einmal entspannt er sich – seine Glieder werden schwer wie Mörtel, das Rückgrat sinkt in sich zusammen, die Lider fallen zu, die Füße spreizen sich. Tröstliche Heiterkeit bemächtigt sich seiner, umfaßt ihn wie ein warmer Handschuh. Jetzt da der Moment tatsächlich gekommen ist, fühlt er sich gelassen wie jeder durchschnittliche Fleischer oder Schuhputzer, der des Morgens beim Duft von Weihnachtsgans und Feigenpudding erwacht. Du mußt einen guten Tod sterben, Ned Rise, schärft er sich ein.
    Der Schließer steht an der Tür, flankiert von zwei Männern mit Musketen. Ned schiebt die Schultern zurück und tritt vor, mit all der Gelassenheit eines Prinzen, der zur Krönung schreitet. Abgesehen von einer beginnendenWangenblässe sieht er schmuck und frisch aus, beinahe vor Gesundheit strotzend – dank Fanny wurde er immer gut versorgt. Sein Haar ist mit einer silbernen Borte zurückgebunden, und er ist recht flott gekleidet, in eine blaue Samtjacke, seidene weiße Beinkleider, Schnallenschuhe. Bleib ruhig, sagt er sich – laß dich nicht gehen. Dann jedoch hebt noch eine Stimme in seinem Kopf an, eine Stimme, die wie eine Litanei andauernd «Aber jetzt muß ich sterben/​Aber jetzt muß ich sterben» wiederholt. Sterben, sterben, sterben, pocht das Blut in seinen Schläfen.
     
    Eine bunt gemischte Menge hat sich für die Exekution vor dem Zuchthaus versammelt – hauptsächlich Aasgeier und degeneriertes Pack, und dann noch Agenten von Sezierern, die die Leichen zu ergattern hoffen. Ein kleines Kontingent der vornehmen Kaste ist auch vertreten, angeführt von Sir Joseph Banks und der Contessa Binbotta. Sie sitzen in Kutschen, die entlang der Straße parken, oder stehen diskret weiter hinten, vom heimischen Herd und dem Bowletopf fortgelockt durch die bittere Logik des «Auge-um-Auge». Falls einer von ihnen es irgendwie unpassend findet, zu Weihnachten einer Hinrichtung beizuwohnen, so zeigen es die Gesichter – streng und mit stählernen Unterkiefern – jedenfalls nicht.
    Inzwischen fällt der Schnee in vollem Ernst herab: Fast fünf Zentimeter feiner weißer Puder glättet die schlammige Erde, erweicht die harten Konturen der Galgen. Die leeren Schlingen sind mit Eis glasiert wie Kuchen, Kutscher in Livree

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