Wassermusik
hasten umher und werfen den Pferden ihrer Herrschaften Decken über, das Publikum zieht Schals und Tücher fester um den Hals und tritt näher an den Richtplatz heran, um mehr zu sehen. Dick wie Kleister wirbeln die großen nassen Flocken aus dem Himmel nieder.
Mit nach hinten gezerrten Ellenbogen und weichen Knien steht Ned am Haupttor und wartet auf den Beginnder Zeremonie. Neben ihm stehen die beiden zerlumpten Diebe, die mit ihm zum Strang verurteilt wurden. Der eine ist ein großer, brutal aussehender Typ mit kurzgeschorenem Kopf und schiefer Nase. Tränen laufen ihm übers Gesicht, und er betet anscheinend halblaut vor sich hin. Seine schweißnasse Faust packt ein Gebetbuch, als wäre es ein Rettungsring. Der andere Unglückliche, so stellt Ned nun mit dem Maß an Überraschung fest, wie es ein angehender Erhängter eben aufbringen kann, ist ein Liliputaner. Knapp einen Meter groß, mit karottenrotem Haar, das seine Wangen und sein Haupt wie ein Buschfeuer umlodert. Ohne Vorwarnung dreht sich der Zwerg plötzlich um und versetzt seinem Kumpan einen heftigen Tritt ans Schienbein.
«Hör schon auf mit dem Rumgeflenne und deinem Mariajosef, du Arschloch! Stirb wie’n Mann.»
«Tu mich bloß in Frieden lassen, Rotkopf», jammert der Große. «Du hast mich doch erst ins Verbrechen getrieben – reicht dir das noch nich?»
Der Liliputaner dreht sich beiseite und spuckt auf den kalten Steinboden. «Ach, dazu hab ich dich getrieben, ja? Und wer wollte denn den Lord Lovat ausnehmen, wie er aus’m Spielsalon rausgekommen is, häh? Und wer hat die brillante Idee gehabt, bei der Kutsche vom Herzog von Bedford innen das Blattgold rauszukratzen? Beantworte mir das mal, du Blödian!» knurrt er und tritt ein zweitesmal nach dem Großen.
«Du verwachs’ner kleiner Homunkerlus!» Jetzt explodiert der Große, läßt das Gebetbuch fallen und packt den Zwerg mit beiden Händen am Schopf. «Ich werd dir zeigen, wer hier wen verdorben hat.» Obwohl die auf dem Rücken gefesselten Hände seine Manövrierfähigkeit extrem einschränken, gelingt es ihm, auf jeder Kopfseite des Zwerges eine große Handvoll grellrotes Haar zu erwischen. «Du Dreckskerl!» brüllt er und schüttelt den kleinenMann wie einen Sack voll Federn, während der seinerseits versucht, einen guten Schlag im Unterleib seines Gegners zu landen.
In diesem Augenblick aber geht das Tor mit apokalyptischem Kreischen auf, und die beiden Kampfhähne erschlaffen und sehen schafsköpfig dem Kaplan zu, der auf der Treppe erscheint, um die feierliche Prozession hinaus in das grelle Blau-Weiß der Straße zu führen. Der Schneesturm pfeift Ned hart und stechend ins Gesicht, aber er wendet weder den Kopf ab, noch senkt er den Blick, denn er begrüßt dieses leicht schmerzende Gefühl, dieses wundervolle automatische Zucken des Organismus. In ein paar Minuten wird mit aller Wahrnehmung endgültig und ein für allemal Schluß sein – mit Lust und mit Schmerz, mit Geschmack und Geruch, dem sanften Druck von Fannys Lippen, mit Hunger, Bitterkeit und Kälte. Hinter ihm sind die beiden Gauner verstummt, hängen nun ihren eigenen Gedanken nach, eingeschüchtert vom schattenhaften Nahen des Todes. Kaum hatten sie eben den Mund aufgemacht, öffnete sich ein entsprechender Frequenzkanal in Neds Gehirn, und er erkannte sie als die zwei Mistkerle wieder, die ihn und Boyles damals nach der Bartholomew Fair beraubt hatten. Der Gedanke, daß sie bald ihre gerechte Strafe bekommen werden, ist aber irgendwie nur ein schwacher Trost.
Der Anblick der drei Galgen, die sich nun aus dem Schneegestöber schälen, kommt als Schock: Rette mich, betet Ned, rette mich! Ich hab ja noch gar nicht richtig gelebt. Gib mir noch eine Chance – nur eine einzige Chance. Doch dann sieht er glasklar die Gestalt mit der schwarzen Kapuze, die reglos neben dem Gerüst steht, und ihm ist klar, daß Beten nichts nützen wird. Der Griff des Henkers ist wie ein Schraubstock, als er Ned auf die Bohlen emporhilft, auf die Bühnenmitte. Für den Zwerg hat man eine extra erhöhte Plattform errichtet – er flucht, als der Henker ihn unter denAchseln packt und oben absetzt wie eine Puppe. Der Große wimmert wie ein junger Hund; beim ersten Zeichen seiner Schwäche wird der Mob unten lebendig und spuckt Hohn und Flüche. Er braucht einen Stoß in die Seite, um auf die Plattform zu steigen, und als der Henker die Schlinge um seinen Hals prüft, schreit er auf, als hätte er sich verbrannt. Die Zuschauer finden das
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