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Wassermusik

Wassermusik

Titel: Wassermusik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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antiseptischen Stechen der Luft. Über ihnen krallen sich entlaubte Bäume in den Himmel. Abrupt läßt Quiddle die Zügel locker und schnalzt dem Pferd leise zu, quietschend graben sich die Räder ins Erdreich, und der Karren kommt mit einem Ruck am Straßenrand zum Stehen. «Hier ist es», flüstert er, bindet die Zügel fest und springt herunter.
    Verdrossen blickt Ned sich um. Er kann kaum etwas erkennen, die Dinge werden scharf und verschwimmen wieder, düster und trugbildartig, lassen sich nur als klumpige Verdichtungen der Finsternis vor dem undurchdringlichen Hintergrund identifizieren. Keinen Meter entfernt sieht er den schwarzen Balken einer Steinmauer, in der sich das Grau oder Weiß einzelner Steine zu einem gespenstisch wabernden Muster fügt. Und dort, hinter der Mauer, die Silhouette einer riesigen verkrüppelten Eibe, die sich in die Nacht hinaufschlängelt. Der Kirchturm bleibt unsichtbar, schwarz auf schwarz, ein massiver getilgter Fleck in einer Ecke des Himmels. «Mir gefällt das nicht», sagt Ned.
    «Ssss, ganz leise!» Quiddle nimmt zwei Spaten aus dem Karren und stemmt sich die Mauer hoch. «Los jetzt», flüstert er, «komm mir nach!»
     
    Als Delp in jener Nacht gegangen war, hatte Ned eine Pfeife entzündet und sich zurückgelehnt, um die Sache zu überdenken. Er hatte im Krankenhaus die Ohren offengehalten und wußte, daß Delp dringend, ja geradezu verzweifelt Leichen benötigte. Das neue Semester fing an, die anderen Kliniken machten ihm Konkurrenz, und seine bisherige Quelle   – Crump – hatte sich als unzuverlässig erwiesen. Außerdem war die Gesellschaft gegen ihn – Sezieren war etwas Schreckliches, ein Tabu, ebenso undenkbar wie Kannibalismus. Wenn man das Leben nach dem Tode als eine sowohl körperliche wie geistige Angelegenheit ansah, wie sollte einer dann seine himmlische Glückseligkeit genießen oder auch die Qualen der Verdammnis erleiden, wenn er in achtundsechzig Stücke zerschnitten war? Demzufolge kamen die Gemeindekassen bei jedem Tod im Sprengel für das Begräbnis auf – Landstreicher, Bettler und Schwachsinnige eingeschlossen. Das einzige legale Mittel, an Exemplare heranzukommen, war der Gang zum Henker in der Hoffnung, eines der Opfer würde nicht von Freunden oder Verwandten beansprucht. Ned war sich bewußt, daß all das Delp zu einem äußerst gefährlichen Gegner machte. Der Mann war zu allem bereit. Skrupellos und voller Tricks – und er setzte Ned das Messer an die Kehle. Er brauchte nur etwas auszuplaudern – ein einziges Wort genügte   –, schon fände sich Ned erneut im Gefängnis wieder, würde noch einmal am Strick baumeln und wäre dann wirklich lebloses Fleisch auf dem Seziertisch.
    Als Delp am nächsten Morgen seine Antwort einholte, brachte Ned ein Grinsen zustande und streckte die Hand aus. «Ich mach den Grabräuber-Job für drei Shillings die Woche», sagte er. Delp schlug die Hand beiseite und hobwarnend den Zeigefinger. «Du wirst es für zwei tun. Noch ein Wort von dir, und du machst es gratis, verstanden?» Ned verstand. Natürlich unterließ er es, Delp zu erzählen, daß er keinerlei Absicht hatte, irgend etwas für ihn zu tun. Er wollte nur Zeit gewinnen. Sobald sein Bein es aushielt, wollte er sich davonstehlen und zu Fanny gehen. Sie würde etwas Geld haben. Und wenn nicht, würde er es aus Brooks herausquetschen – verdient hatte sie es ja wohl, zum Teufel. Dann würden sie beide verschwinden, und Delp konnte zur Hölle fahren.
    Leider hatte der Plan einen Haken.
    Eines Morgens war Ned vor Tagesanbruch auf und schlich an dem schlummernden Portier vorbei zur Tür hinaus. Quiddle hatte ihm ein paar zerlumpte Sachen gegeben, und die eitrige Wunde an seinem Bein hatte sich in eine lange dünne Narbe verwandelt, die farblich an Kalbsleberwurst erinnerte. Er machte sich langsam und unter Schmerzen auf den Weg zur Great George Street, die Kälte ließ das Bein steif werden, doch der Gedanke an Fanny spornte ihn an. Er stellte sich ihr Gesicht vor, wenn er vor ihr in der Tür stünde, rief sich die klare weiße Präzision ihrer Zähne ins Gedächtnis, das kühle Gleiten ihrer Umarmung, ihr Lachen, das sie wie eine Sinfonie erklingen ließ. Doch als er in die Great George Street einbog, spürte er, daß etwas nicht stimmte. Da war Brooks’ Haus, imposant mit dem Portikus, den Palladio-Fenstern, dem steil abfallenden Dach, aber es sah alles sehr zugesperrt aus – als wären die Bewohner verreist.
    Es konnte nicht sein. Ned rannte

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