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Wassermusik

Wassermusik

Titel: Wassermusik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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über die Straße, der Schmerz war jetzt Nebensache, er flankte unbeholfen über den Zaun und saß plötzlich in dem stillen, mit Laub übersäten Hof. Vom Haus war kein Ton zu hören, keinerlei Lebenszeichen. Keine Diener, Lieferanten, Gärtner. Vorsichtig, ein Schatten zwischen Schatten, schlich er näher und spähte durch die Läden, sah die weißen Laken über denMöbeln, die leeren Flecken auf den Wänden, wo einst Bilder gehangen hatten, den kalten, rußgeschwärzten Herd. Später, draußen auf der Straße, zog er unauffällig Erkundigungen ein. Nach mehreren Abfuhren stieß er auf ein geschwätziges Dienstmädchen, das zwei Gordon-Setter ausführte. «Ach ja», sagte die Frau, «fragense mich bloß nich, was in den gefahrn is, aber der Mr.   Brooks is ganz übaraschend weg nach Italjen und Kriechenland für ’ne Weile. So tut man sich’s jedenfalls erzähln.»
    Ned schnürte sich der Magen zusammen. Alle Hoffnung war dahin, er wußte es, er spürte sie entschwinden wie ein Blatt im Sturm. Die Frage lag ihm auf den Lippen – aber Fanny, was ist mit Fanny?   –, doch er wußte sie nicht in Worte zu fassen.
    Das Mädchen bohrte sich nachdenklich in einem Grübchen am Kinn. «Seine kleine Schlampe hat er wohl auch mitgenommen   … och, jetz kuck doch nich so trübselich, Goldköppchen – also, das war ja hier im ganzen Block stadtbekannt, nich? So ein Skandal war das, echt ’n Skandal. Hat der da ’ne Frau im Haus und is noch Junggeselle. Ha! Also, ich könnt Ihnen ja noch so’n paar Sachen von diese feine Leute erzählen, glaubense mir.»
    Im Hintergrund pißten die Hunde, hechelten und beschnüffelten einander. Plötzlich spürte Ned ein deutliches Abkühlen der Luft. Er erschauerte am ganzen Körper, als wäre ihm die Kälte mitten ins Rückenmark gefahren, dann wandte er sich ab und ging davon, während die Frau ihm noch irgend etwas nachbrüllte. Ein Stück weiter fand er einen geschützten Platz zum Hinsetzen und Nachdenken. Fanny war also fort. Auf unbestimmte Zeit. Plötzlich erschien Delp in seinen Grübeleien. Falls Ned nicht wieder im Krankenhaus war, wenn der Arzt durch die Tür kam, ginge die Hölle für ihn los. Im buchstäblichen Sinne. Der Dreckskerl würde die Bluthunde ohne Zögern loshetzen. Und was dann?
    Durchgefroren saß er so da und sah den Tauben zu, die im Rinnstein scharrten. Nach einer Weile stand er mißmutig auf und machte sich auf den Weg. Zum St.   Bartholomew’s Hospital.
     
    «Los, komm schon!» zischt Quiddle. «Bringen wir’s hinter uns.» Dann verschwindet er über die Mauer, das kurze, scharfe Klirren der Spaten ist wie ein in die Nacht gebohrtes Loch.
    Widerwillig steigt Ned aus dem Karren, schlägt mit den Armen, um warm zu werden. Der Duft von frisch aufgeworfener Erde liegt in der Luft, und noch etwas anderes – wie der Geruch von feuchten Blättern oder von Regenwürmern, die im Platzregen ersoffen sind. Die pechschwarze Finsternis der Nacht ist entsetzlich. Ned trödelt noch eine Minute herum, späht angestrengt in das Dunkel und kämpft die plötzliche Regung nieder, ein Liedchen zu pfeifen. Die Haut um seine Augen und Ohren scheint zu schrumpfen und zerrt an seinem Haaransatz wie ein Gummiband. Gütiger Gott, denkt er, und dann ist er auf der Mauer und drüber.
    Am Tag hat es auf dem Friedhof von Islington eine Beerdigung gegeben. Eine vierköpfige Familie. Mord/​Selbstmord. In ihrer Verzweiflung über ein Leben aus Lumpen und Kartoffeln hatte die Hausfrau ihrem Gatten den Porridge mit Arsentrioxid gewürzt und die beiden auf Maisblätter-Matratzen schlafenden Kinder erstickt. Bis zum Morgengrauen hatte sie bei den Toten Wache gehalten und sich dann das Blatt einer Bügelsäge über die Handgelenke gerissen, immer und immer wieder, bis sie neben ihnen niedergesunken und langsam verblutet war.
    Delp hat in der Zeitung davon gelesen.
    Hinter der Mauer ist es noch dunkler, falls das möglich ist. Was jetzt? fragt sich Ned, als ihn auf einmal Quiddles Stimme aus dem Nichts anspringt: «Pssst! Hierher» – erhechtet sich wie wild ins Gebüsch, bis auf die Knochen bibbernd, ein Zweig peitscht ihm ins Gesicht, abgestorbenes Unkraut raschelt unter ihm, und dann wieder diese schreckliche Stille. Wie er so im Dunkeln daliegt und sich dumm vorkommt, wird ihm klarer als je zuvor, daß es bessere Möglichkeiten gibt, eine kalte Winternacht zu verbringen. Sein inneres Auge gleitet kurz über nackte Arme, schlafende Hunde, Krüge voll Bier und fröhlich prasselnde

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