Wassermusik
Entsetzenzu verarbeiten, das er durchlebt hat. Sobald er die Augen schließt, ist es jedesmal wieder da, unbarmherzig, schonungslos – der Galgen, der drohend über ihm aufragt wie ein riesiges fleischfressendes Insekt, der wie Asche herabflockende Schnee, der eiskalte, totenstarre Blick des Henkers und das untrügliche Gefühl, hinter der schwarzen Kapuze verberge sich ein namenloser, unmenschlicher Schrecken. Ob er schläft oder wacht, das Bild sucht ihn heim. Er schaudert und windet sich auf Quiddles schmalem Lager, wenn der Alptraum näher kommt, die Schlinge vor ihm baumelt, und dann fährt er schweißgebadet hoch und denkt: Und wenn sie es nun rauskriegen? Was ist, wenn Banks oder Mendoza oder Twits Schwester davon erfahren? Er stürzt in die Tiefe, spürt schon den ganzen bösen Kreislauf von neuem beginnen, das knirschende Rad, die erlesenen Foltermethoden, ganz langsam und genüßlich. Er will aufschreien, brüllen, bis die Wände einstürzen – doch er tut es nicht. Schweigen ist oberstes Gebot. Sollen sie nur weiterrätseln. Noch ein paar Tage, dann ist das Bein verheilt, nur noch ein paar Tage, dann …
Die Tür geht auf. Quiddle. Kommt mit einem Tablett herein: kaltes Huhn, Fleischpastete, ein Krug Bier. Aber Moment mal: es ist gar nicht Quiddle. Die Gestalt ist größer, breiter – wer?
Decius William Delp steht über dem Bett, das Tablett in der Hand. Als er sich vorbeugt, um es abzusetzen, zuckt Ned instinktiv zurück. Für einen langen Augenblick steht das Tablett zwischen ihnen, dünner Dampf steigt von dem gebackenen Fleisch auf. Delp starrt Ned unverwandt an. Ned muß wegsehen.
«Geht schon viel besser, wie es scheint – was, Dornröschen?» bemerkt Delp endlich. Er ist von schwerer Statur, sehr bleich, mit schwarzen Haaren auf den Handrücken. «Na – willst du nicht das heutige Angebot begutachten … Ned?»
Ned fährt hoch, als hätte man ihn geohrfeigt. « Woher –? »
Delp lächelt – ein kaltes, gnadenloses Lächeln, das tiefe Furchen in sein Gesicht gräbt, die Ohren flach an den Kopf legt und seine schlechten Zähne entblößt. «Auf einmal die Sprache wiedergefunden, was? … Na los, red lauter, ich kann dich nicht hören – Ned. Ned Rise, stimmt’s?»
Ned will zur Tür stürzen, aber Delp bekommt ihn am Arm zu fassen und schubst ihn aufs Bett zurück wie ein ungehorsames Kind. «Ich bin noch nicht fertig, Freundchen.» Der Arzt stopft sich in Ruhe eine Pfeife, deren Rauch seine Augen verschleiert und ihm dann wie ein Kapuze über dem Kopf schwebt. «Mir war von Anfang an klar, was mit dir los ist, weißt du? Ich bin kein Einfaltspinsel wie der blöde Quiddle oder die übrigen Schwachköpfe – ich weiß genau, was du für einer bist: ein Betrüger und Mörder. Mein erster Impuls war ja, dich gleich wieder dem Henker vor die Füße zu werfen, als die erste Aufregung vorbei war, aber dann kam mir eine noch bessere Idee: Ich habe überlegt daß es dir hier wohl ganz gut gefällt, daß du vielleicht auch gern länger bleiben würdest, einen neuen Namen annehmen, eben eine Zeitlang untertauchen. Ein gutes Leben in Anonymität, na?» Delp geht jetzt auf und ab, stolziert vor der Tür hin und her, den Kopf gesenkt, mit qualmender Pfeife. Er wirkt wie ein Bär im Kampfring, bevor man die Hunde hineinläßt. «Ich habe ja auch wirklich keinen Grund, warum Leute wie Sir Joseph Banks etwas von deiner, äh, Genesung erfahren sollten – du etwa?»
Ned sitzt dicht an die Wand gepreßt, die Knie an den Körper gezogen. Zum erstenmal sieht er Delp in die Augen. Seine Stimme klingt erschöpft, resigniert. «Gut», sagt er. «Was soll ich dafür machen?»
DUNKLE GESTALTEN IN GESPENSTISCHER NACHT
In der letzten Kate der New Road sind die Lichter ausgegangen, der Himmel ist mondlos und kalt wie Stein, Rauhreif liegt weiß auf den Dächern, alle Türen sind verriegelt, und die braven, aufrechten, vernünftigen Menschen schnarchen längst in ihren Betten oder sind vor dem Kamin eingedöst. Draußen auf der Landstraße wird die Stille durch das leise Stampfen von Pferdehufen und das kaum hörbare Kratzen einer rostigen Radnabe unterbrochen. Im Innern des dahinkriechenden Karrens hockt Ned Rise mit dicker Jacke, Handschuhen, Schal und Mütze, während vorne Quiddle mit tauben Fingern an den Zügeln zerrt. Dampffahnen entströmen ihren Nasen, und die Augen tränen ihnen vor Kälte. Der Geruch des Pferdes mischt sich mit dem schwach beißenden Aroma von Holzfeuern und dem klaren,
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