Wassermusik
Mund weit auf, als wollte er eine Apfelsine oder ein Ei verschlingen –, dann über die Schulter auf die staubige Straße zum Flußufer. Was er sieht, läßt ihn erstarren: ein Wirklichkeit gewordener Alptraum. Mit hoch erhobenen Waffen und flatternden
jubbahs
rast dort eine unüberschaubare Heerschar von Mauren auf sie zu, ihre schweißglänzenden Pferde trampeln in wilder Stampede heran.
Auch den übrigen ist dies keineswegs entgangen. Hatten sie eben noch herumgedöst wie degenerierte Kronprinzen,stürzen sie nun plötzlich wie die Wahnsinnigen zu den Paddeln, während der Entdeckungsreisende, dessen Füße noch im Kielwasser baumeln, an Bord klettert. Angeregt durch die düstere Aussicht des nahen Todes kann man auf einmal rasch und konzentriert handeln – sogar M’Keal, der aalglatte Fatoumi und der fragile Frair rudern drauflos, als ginge es um einen Platz im Oxford-Achter. Auch Mungo ist jetzt entflammt. In dem Tumult findet er kein Paddel, und so beugt er sich übers Wasser und fängt an, mit den hohlen Händen darauf einzudreschen, wie um die Wogen zu teilen oder eine Höhle im Naß zu graben. «Legt euch ins Zeug!» schreit Ned neben ihm, und die
Joliba
gewinnt langsam Fahrt.
Sie sind keine hundert Meter vom Ufer weg, als der erste Maure sich ins Wasser wirft, ein großer Bursche in Schwarz, der auf die Nüstern seines Rosses eindrischt und arabische Obszönitäten kreischt. Sekunden später wimmelt der Fluß von Mauren, Hunderten davon, sie feuern vereinzelt aus Musketen, werfen Lanzen und brüllen ihren Kriegsruf. Mungo peitscht wie wild das Wasser, riskiert aber einen Blick zurück auf seine Erzfeinde, ihre Pferde schwimmen wie Seehunde, Augen glühen und Nasenlöcher weiten sich blutrünstig, Waffen blitzen rot auf im vollen, saftigen Morgenlicht. Und dann verläßt ihn schlagartig alle Kraft im Arm. Den vordersten Mauren – sechzig Meter entfernt, dessen Pferd fast vor Anstrengung explodiert –, kennt er. Er kennt diese wuchtigen Schultern, die die Nähte der
jubbah
spannen, er kennt diese Augen, diese Narbe, den irrwitzigen Blick und die haßerfüllte Maske …
Dassoud hebt die Pistole, sein Pferd strampelt vergebens, die
Joliba
treibt davon. Verzweifelt zielt er über den Lauf und feuert, nur ein weiteres Rauchwölkchen in dem Durcheinander aus wirbelnden
jubbahs
, klappernden Speeren, Schreien und Staubwolken am Ufer hinter ihm. Qualmund Staub sind so dicht und der Lärm so infernalisch, daß der Entdeckungsreisende gar nicht sicher ist, ob der Maure geschossen hat, als da urplötzlich etwas Warmes, Nasses auf seinem Arm ist und eine schwere Last von oben auf ihn drückt. Im Umdrehen sieht er in das verzerrte Gesicht Abraham Boltons, der ihm gerade das fehlende Paddel hatte bringen wollen. Jetzt, mit ausgeschossenem rechtem Auge, torkelt der Soldat über ihm, fuchtelt mit dem Paddel herum und kämpft um sein Gleichgewicht. Mungos Reaktion kommt instinktiv: er senkt die Schulter, und Bolton, der arme Tropf, wankt an ihm vorbei direkt in den Fluß, wie ein Sack voller Steine, der von einer Brücke geworfen wird.
Als Mungo aufblickt, starrt er über eine stetig schwindende Wasserfläche hinweg in Dassouds Augen, der Maure kommt näher, ist nun schon so dicht, daß das krampfhafte Keuchen seines Reittiers an der Lunge des Entdeckungsreisenden zerrt und er selbst kaum noch Luft bekommt. Vage – wie in einem Traum – greift Mungo nach Boltons Paddel, doch die Augen des Mauren nageln ihn wie Enterhaken fest, und er spürt, wie seine Kehle sich zuschnürt, er muß beinahe in Tränen ausbrechen über all diese Ungerechtigkeit. Wie hypnotisiert denkt er weder an die neunzig geladenen Musketen unter dem Lederdach noch an die silberne Pistole, die in seinem Gürtel steckt. Er denkt nur an das Scheitern, an die Gemeinheit und den Tod.
Dann aber dringt die Stimme von Ned Rise durch das Chaos, muskulös und anspornend – «Rudert, Jungs! Rudert!» –, und das Gemälde zerfließt. Dassoud fällt zurück, und die
Joliba
wird davongerissen, weit hinaus in den reinigenden Strom, weit weg von Blut und Schrecken und den grausam grabschenden Fingern der Gefangenschaft, weit hinaus auf den breiten Rücken des Niger. Wie ein versteinerter Bittsteller kniet Mungo, unfähig zum Denken oderzu einer Bewegung, und sieht seinen ärgsten Feind in die Ferne zurückweichen, bis der schwarze Punkt seines Kopfes im Rhythmus der Wellen versinkt.
DOCH STILL FLIESST DER NIGER
Sie ist wie eine Reise durch den
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