Wassermusik
Körper, diese Penetration des Flusses, wie eine Fahrt durch Venen und Arterien und riesige tropfende Organe, wie das Erforschen der Herzkammern oder die Suche nach der ungreifbaren Seele. Erde, Urwald, Himmel, Wasser: im Fluß pocht der Puls des Lebens. Mungo spürt ihn – beständig und durchdringend wie das Ticken einer himmlischen Uhr –, spürt ihn an den sengenden, windstillen Tagen und in den pechschwarzen Nächten, die an den Rand des Nichts zurückweichen. Auch Ned Rise spürt ihn, sogar M’Keal. Eine Macht. Ein Geheimnis. Ein Gefühl der Vereinigung mit dem Ewigen, das einen Mantel über die Welt wirft, alles zum Verstummen bringt: die langhalsigen Reiher, die Flußpferde, Zikaden, Krokodile, Bläßhühner, Eisvögel und Schnepfen, die großen silbrigen Fische, die lautlos hoch aus dem Wasser schnellen und wieder hineingleiten. Es ist fast, als stünden sie unter einem Zauber, der Entdeckungsreisende und seine Mannschaft, als ströme ihr Blut in harmonischer Einheit mit dem Fluß, der sie von aller Schuld und den Schrecken und Entbehrungen des Überlandmarsches reinwäscht. Sanft und eindringlich zieht sie der Strom mit seiner ganz eigenen Kraft und Logik durch diese ersten stillen Wochen.
Dann jedoch erwacht die Crew eines Morgens unter einem Himmel von der Farbe getrockneten Blutes, und es ist, als hätten sie plötzlich das Gehör wiedergefunden. Geräusche dröhnen auf sie ein, unerträglich, vom Quietschen des Ruders bis zum Knattern des Ochsenleders in dem grausam heißen Wind, der sich offenbar über Nacht an sie herangepirschthat. Große Gänse- und Ohrengeier kreisen über ihnen, die Männer können das Sausen der Schwingen hören. Flußpferde prusten wie krachende Kanonen, und Krokodile blaffen wie Hunde. Mit einem Mal schreit das ganze Universum auf sie ein.
Mungo rollt sich aus dem feuchten Laken, das Getöse läßt ihn zusammenzucken, und er stellt erschrocken fest, daß sie nicht mehr zwischen den endlosen verworrenen Hainen aus überhängenden Bäumen und klammernden Lianen entlangtreiben, die sich seit der Abfahrt von Sansanding an beiden Flußufern aufgetürmt haben. Verblüfft dreht er sich im Kreis, dann zieht er sein Fernrohr hervor und blickt sich noch einmal um. Er sieht kein bißchen Grün über dem Wasser, keinerlei Vegetation, ja gar kein Ufer mehr. Dann begreift er: sie müssen über Nacht den Dibbie-See erreicht haben, das gewaltige Binnenmeer, das sich angeblich von Djenné bis Kabara erstreckt. Er späht auf die bewegte Wasserfläche und freut sich über seine Erkenntnis. Immens und uferlos klatscht der See an die Planken zu seinen Füßen, der heiße Wind peitscht das Wasser zu schäumend braunen Wogen auf.
Der Entdeckungsreisende konsultiert seinen Kompaß. Sie haben nord-nordöstlichen Kurs. Auf Timbuktu – und die Große Wüste zu. Er schluckt heftig und hofft, daß alles stimmt, was ihm die alte Djanna-Geo und Amadi erzählt haben, nämlich daß der Fluß sich danach tatsächlich nach Süden wendet. Doch beim Blick auf die beharrliche Kompaßnadel überfällt ihn der Zweifel. Hatten Rennell und die anderen etwa doch recht? Geht dem Fluß wirklich mitten in der Sahara die Puste aus? Donnert er einem bodenlosen Loch in der Erde entgegen? Verdunstet er im Tschadsee?
Durch diese Grübeleien beunruhigt, geht Mungo nach vorn, wo Amadi Fatoumi und seine Leute sich aufhalten. Die vier Männer hocken dort mit gespreizten Beinen, schnippen geschnitzte Knochenplättchen gegen die konkaveBootswand und teilen einander je nach Ergebnis große Haufen von Kauris zu. Beim Herannahen des Entdeckungsreisenden gießt Amadi mit förmlicher Geste einen dünnen Strom schwarzen Tees in eine fingerhutgroße Tasse, die er ihm nickend und lächelnd hinhält.
«Tja», sagt Mungo und schwankt mit der Dünung, «da sind wir wohl auf dem Dibbie, was?» Im Bug liegt Fred Frair zusammengekauert, fixiert ihn kurz mit leerem Blick und starrt dann wieder düster auf den See hinaus. Amadi sieht zu dem Entdeckungsreisenden auf, als hätte er ihn nicht gehört.
«Ich sagte: Dibbie, oder?» Plötzlich merkt der Entdeckungsreisende, daß er brüllt. Er kann ja auch gar nicht anders, bei all dem Krach. Irgendwo vom Heck her hört man ein nervenzerfetzendes Klappern von Besteck, unter dem Baldachin ertönt M’Keals Schnarchen im Vollrausch, dazu das Kreischen ferner Möwen, das Summen der Mücken – alles so laut, als wäre es hundertfach verstärkt. Gereizt bückt er sich zu seinem Führer. «Was hat
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